Das Jugendfest steht vor der Tür
Wenn die Lindenbäume der Allee an der Ammerswilerstrasse ihren süssen Duft verströmen, ist dies ein untrügliches Zeichen für das nahende Jugendfest. Und dieses Fest weckt namentlich bei älteren Lenzburgern viele Erinnerungen. So zum Beispiel an die Tanzkurse im ehemaligen Restaurant «Central».
Der legendäre Tanzmeister Eugen Gallauer

Eugen Gallauer, 1898-1978. Quelle: private Fotosammlung
Beim Autor sind die im Säli im 1. Stock des ehemaligen Restaurants «Central» durchgeführten Tanzkurse, die er in den 1960er-Jahren erlebte, in lebendiger Erinnerung. Jeweils am Samstagnachmittag im Schulquartal vor dem Jugendfest traf sich eine Schar von Oberstufenschülerinnen und Oberstufenschülern zum Tanzkurs bei Meister Gallauer. Wir lernten wie man Walzer, Kreuzpolka, Samba, Charleston usw. tanzt. Um den Wechsel von der Belastung/Entlastung beim Charleston von einem Bein auf das andere zu lernen, konnten sich die Tanzschüler zuerst auf eine Stuhllehne abstützen. Erst, als sie dies beherrschten, lernten sie paarweise Charleston zu tanzen. Auch einiges an Umgangsformen brachte uns Geni Gallauer bei. Zum Tanzen hatten wir immer eine Partnerin, einen Partner zu engagieren. Im Allgemeinen oblag es den Knaben, eine Partnerin zum Tanz zu bitten, doch zur Abwechslung gab es immer wieder auch eine Damentour und damit nicht nur auf der weiblichen, sondern auch auf der männlichen Seite die oft bange Frage: Wer engagiert mich? Es gab hier Knaben und junge Damen, welche die Szene beherrschten und begehrt waren, und andere, die eher scheu und zurückhaltend waren. Manches spätere Ehepaar hat sich hier zum ersten Mal näher kennengelernt, so auch der Autor und seine leider allzu früh verstorbene Gattin.
Eine Besonderheit von Eugen Gallauer waren seine gross angelegten Polonaisen. Zuerst wurden sie in kleiner Form im Säli des «Central» eingeübt. Am Jugendfest und am Nachjugendfest führte er sie dann mit seinen Eleven auf dem grossen Tanzboden auf der Schützenmatte durch: Paare, die sich erst in einer Zweierkolonne vorwärts bewegten, dann sich in zwei Kreise teilten, wobei der eine Kreis eine Galerie bildetet, unter welcher der andere Kreis durchmarschierte und am Ende die Galerie verlängerte; jene, welche die Galerie zuerst gebildet hatten, marschierten am Schluss unter der Galerie durch, bis sich diese aufgelöst hatte. In vereinigtem Zug bildete man nun eine neue Form. Dies ging schier endlos in vielfacher Gestalt so weiter. Der Tanzboden auf der Schützenmatte war damals übrigens noch viel grösser als heute, und die zehn Minuten oder noch länger dauernden Polonaisen nützten den ganzen zur Verfügung stehenden Raum aus.
Eugen Gallauer hat während mehrerer Jahrzehnte bis zum Jugendfest 1970 als Tanzmeister gewirkt. In dieser Eigenschaft gehörte er übrigens von 1948 bis 1971 der Jugendfestkommission an. Für sein Wirken wurde er an der Gemeindeversammlung vom 8. Juni 1959 mit der Ehrengabe der Stadt Lenzburg und mit folgenden Worten geehrt: «Herrn Eugen Gallauer, von Staufen, in Lenzburg, dem Tanzmeister unserer Stadt, welcher seit Jahrzehnten uneigennützig und unaufgefordert an den Tagen des Jugendfestes und des Nachjugendfestes die Jugend auf dem Tanzboden in der Schützenmatte betreut, ihren frohen Sinn und ihre Anmut durch Tänze, Reigen und Spiele zu ihrer eigenen Freude und zum Entzücken der Erwachsenen hebt und der auch an städtischen Volksfesten Alt und Jung in den Bann beschwingter Fröhlichkeit zieht.»
Wir haben mit dieser Schilderung in eine Zeit zurückgeblickt, zu der noch traditionelle Märsche, Walzer, Tänze und Ländler gehörten. Erst in den folgenden Jahren stieg der Stern der Beatles, der Rolling Stones und anderer Grössen auf, die der Unterhaltungsmusik eine ganze neue Richtung gegeben haben.
Vom Restaurant «Central» zur Radiologiepraxis
Das Gebäude von Sternapotheke und Radiologiepraxis heute; im rechts hinter der Radiologiepraxis sichtbaren Gebäudeteil waren bis in die 1970er-Jahre der Coiffeursalon und das Spielwarengeschäft Furter untergebracht.
Füllte der Tanzkurs im Säli des «Central» bis Ende der 1960er-Jahre das Gebäude mit jugendlicher Begeisterung, spielt hier das Leben heute auf andere Weise: In der Radiologiepraxis geht es darum, medizinische Massnahmen abzuklären und durchzuführen, die der Gesundheit der Patienten dienen. Zwischen den beiden Epochen liegen aber noch verschiedene Ereignisse.
Die langjährige Wirtefamilie Ryf gab Ende der 1970er-Jahre das Restaurant «Central» auf. Die Aargauische Kantonalbank beabsichtigte, in Lenzburg eine Filiale zu eröffnen und machte sich daran, das Gebäude zu erwerben. Dies rief die platzbeherrschende Hypothekarbank Lenzburg, gemäss eigenem Bekunden die «Bank vis-à-vis», auf den Plan, welche die Konkurrenz nicht unmittelbar vis-à-vis ihres neuen Hauptsitzes sehen wollte und deshalb das Gebäude erwarb. In der Folge wurde das Restaurant von verschiedenen Wirten pachtweise weitergeführt. Mit neuen Eigentümern entstand schliesslich ein China-Restaurant mit zeitweilig zwielichtigen Verhältnissen, die zu Klagen der Nachbarn Anlass gaben. Vor einigen Jahren konnte das Gebäude vom Nachbarn, dem Apotheker Dr. Eichenberger, erworben werden und wurde schliesslich für die Radiologiepraxis umgebaut.
Der Bau des Häuserkomplexes im Jahre 1880

Ausschnitt aus dem Plan «Geometrischer Grundriss der Stadt Lenzburg mit deren Brunnenleitungen» 1831 von D. Müller. Vor 1880 lagen die Gebäude rechts der Stadtkirche noch an der geschlossenen Stadtmauer; die ersten zwei Gebäude rechts der Kirche (Nr. 1 und 2) sind die Pfrund- und die Gerbescheune, Nr. 3 die Scheune der Erben Roth und Nr. 4 die Scheune von Fuhrhalter Häfeli. Quelle: Stadtarchiv Lenzburg III YD.12
Der Häuserkomplex zwischen Stadtkirche, Torgasse und Hinterer Kirchgasse, welcher aus den Gebäuden der Sternapotheke, der Radiologiepraxis und der Liegenschaft mit Café und Bar «Lencis» im Parterre besteht, ist ein erster grosser Neubau im Bereich der westlichen ehemaligen Stadtmauer und der daran angebauten Scheunen. Er ist 1880 errichtet worden. Zuvor erhob sich dort die Stadtmauer mit folgenden Scheunen (siehe Titelbild): Im Anschluss an den Kirchhof die Pfrund- und die Gerbescheune, daran anschliessend die Scheune der Erben des Kaufmanns Joh. Roth. Letztere wurde von der Ortsbürgergemeinde erworben und dann, zusammen mit der Pfrund- und der Gerbescheune an Johann Schmid-Läuchli, Kaufmann, veräussert. Dieser liess die oben erwähnten drei Gebäude gemeinsam errichten. Der südlichste Teil des Grundstückes verblieb im Eigentum der Gemeinde und war für die nach dem beabsichtigten Bau des Durchbruchs vorgesehene Strasse bestimmt. Wegen der Finanznot der Stadt nach dem Nationalbahnkonkurs wurde der bereits damals geplante Durchbruch von der Rathausgasse zur Bahnhofstrasse (Torgasse) erst 1907 ausgeführt.
Stern-Apotheke seit 1910
Für den Gebäudeteil rechts erhielt der Bauherr bereits im Dezember 1880 eine Bewilligung für den Betrieb einer Speisewirtschaft (das spätere Restaurant «Central»). Im linken Gebäudeteil gründete Franz Steiner-Weise im Jahre 1910 die Stern-Apotheke. 1946 erwarb Dr. Kurt Eichenberger-Vinzens die Apotheke und veräusserte sie 1972 an Dr. Eugen Eichenberger-Wyler. Heute wird sie von dessen Sohn Dr. Patrick Eichenberger geführt.
Titelbild: Blick von der Bahnhofstrasse zum Durchbruch, ca. 1908. Links der Neubau Schmid-Läuchli von 1880, rechts die Scheune von Fuhrhalter Häfeli, die 1911 dem Neubau für Zahnarzt Dr. Hämmerli wich. Quelle: Fotoband Liebes Altes Lenzburg, Seite 121
Über
We Love Lenzburg macht jeden Monat eine Reise ins vergangene Lenzburg.
Christoph Moser, 74, war von 1979 bis 2010 Lenzburger Stadtschreiber.
Seit seiner Pensionierung betreut er das Stadtarchiv, verfasst Vorträge zu historischen Themen und wirkt als Stadtführer. Sein Motto: Die Auseinandersetzung mit der Geschichte hilft uns, unsere Gegenwart besser zu verstehen.

