Zeitreise

Schulanlage Angelrain, vom Bezirksschulhaus zum Schulhaus Bleicherain

Im zweiten Teil unserer Zeitreise zur Schulanlage Angelrain beschäftigen wir uns mit dem Bezirksschulhaus.

Von Christoph Moser

Das Bezirksschulhaus wurde am 26. Oktober 1926 eingeweiht. Nach der Zusammenfassung aller Oberstufenklassen in der Schulanlage Lenzhard wurde das imposante Gebäude in den Jahren 2017 und 2018 grundlegend renoviert und umgebaut. Seither dient es der Primarschule und der Musikschule und hört auf den Namen Schulhaus Bleicherain.

Bild: Das neu erstellte Bezirksschulhaus, Aufnahme von 1930
Quelle: Festschrift zur Einweihung des neuen Bezirksschulhauses in Lenzburg, 26. Oktober 1930

Ein langer Weg zum Neubau


Schon beim Auszug der Primarschule aus dem alten Schulhaus, dem Hünerwadelhaus, in das neu erstellte Schulhaus Angelrain im Jahre 1903 bestand der Wunsch, auch für die Bezirksschule ein neues, für ihre Bedürfnisse besser geeignetes Schulhaus zu errichten. Da indes die Finanznot der Stadt Lenzburg als Folge des Nationalbahnkonkurses vom Februar 1878 andauerte, wagte man sich nicht an ein so grosses Bauvorhaben.
Die Verhältnisse für die Bezirksschule im alten Schulhaus wurden mit der Zeit aber immer prekärer. Endlich bewilligte die Gemeindeversammlung vom 13. Mai 1922 einen Kredit von 6’000 Franken für die Erlangung von Bauprojekten. Dazu führte man einen Projektwettbewerb durch. Es gingen 49 Entwürfe ein, von denen vier prämiert wurden. Allerdings zeigte sich, dass das Vorhaben weit mehr kosten würde, als man angenommen hatte. Deshalb kam die Idee auf, bei den Nachbargemeinden, welche Schüler in die Lenzburger Bezirksschule schickten, anzufragen, ob sie allenfalls bereit wären, einen Investitionsbeitrag zu leisten. Da die angefragten Gemeinden auf die Schwierigkeit hinwiesen, ihren Stimmberechtigten ein solches Vorhaben schmackhaft zu machen, sah man aber davon ab. Damit schlief das Vorhaben vorderhand ein, und es ging nichts mehr. Erst nach einer Intervention von Dr. Max Hemmeler an der Gemeindeversammlung vom 10. Juli 1925 kam das Verfahren wieder in Gang. Es folgten lange Erörterungen in der Baukommission, wobei auch die Renovation des alten Schulhauses erwogen, aber wieder verworfen wurde. Am 30. August 1926 beschloss die Gemeindeversammlung grundsätzlich den Neubau eines Bezirksschulhauses und beauftragte den Gemeinderat, ein Projekt ausarbeiten zu lassen.

Ein modernes Projekt löst Diskussionen aus; die Stimmbürger entscheiden sich für eine herkömmliche Bauweise


Es wurde wiederum ein Projektwettbewerb durchgeführt. Den ersten Preis gewann das Projekt «Ukulele» des Architekten Schmidt in Basel, den zweiten Preis das Projekt «neue Wege» von Architekt Richard Hächler, Lenzburg. Nun hob eine rege Diskussion an. In der Architektur war nämlich inzwischen eine neue Richtung in Erscheinung getreten, die in Fachkreisen und den Tageszeitungen schon zu lebhaften Auseinandersetzungen Anlass gegeben hatte, die sogenannte «sachliche Bauweise», heute besser bekannt unter dem Stichwort «Bauhaus-Architektur». Man liess daher die beiden erstprämierten Architekten ihre Projekte als gemeinsames Projekt überarbeiten, mit dem Wunsch, eine bessere Anpassung an das Stadtbild zu erreichen. Doch auch das überarbeitete Projekt Schmidt/Hächler blieb den Grundsätzen der sachlichen Bauweise mit Flachdach treu.
Bild: Die beiden Aufnahmen zeigen das Projekt Schmidt/Hächler von Südosten und Südwesten
. Quelle: Bericht des Gemeinderates vom 20. Juli 1928 an die Gemeindeversammlung

Wegen der heftigen Kritik, auf welche dieses Projekt in der Öffentlichkeit des Städtchens gestossen war, liessen Baukommission und Gemeinderat durch das Architekturbüro Brenner & Stutz in Frauenfeld ein Projekt mit traditionellem Walmdach ausarbeiten. Nach ausführlicher Diskussion entschieden sich Baukommission und Gemeinderat mehrheitlich für das Projekt Schmidt/Hächler.
Den Stimmbürgern wurden die beiden Projekte mit einem ausführlichen Bericht des Gemeinderates vom 20. Juli 1928 unterbreitet. Es folgte eine heftige Kontroverse über die beiden Vorschläge in der lokalen Presse. Dabei ging es nicht nur um die Eingliederung ins Ortsbild, sondern vor allem um die befürchteten Nachteile des Flachdaches und der Eisenbetonkonstruktion. Am 5. November 1928 entschied die Gemeindeversammlung über das auszuführende Projekt. Auf das Projekt Schmidt/Hächler entfielen 144 Stimmen, auf das Projekt Brenner & Stutz mit Walmdach 450 Stimmen.


Die beiden Aufnahmen zeigen das Projekt Brenner & Stutz von Südosten und Südwesten. 
Quelle: Bericht an die Gemeindeversammlung

Auffallend ist übrigens die rege Teilnahme an der Gemeindeversammlung: Rund 600 Teilnehmer bei damals 4’000 Einwohnern und noch weit in der Ferne liegendem Frauenstimmrecht. Das Architekturbüro Brenner & Stutz hat im Übrigen von 1909 bis 1911 den grossen Fabrikneubau der Hero (von dem heute nur noch ein Teil steht) und 1912 das ehemalige Bürogebäude der Hero am Niederlenzer Kirchweg 3 (heute: Lenzbürgi) verwirklicht.
Bei diesem öffentlichen Bauvorhaben hat sich somit die konservative Haltung der Lenzburger Bevölkerung klar durchgesetzt. Nicht so bei privaten Bauten. Das ebenfalls Bauhaus-geprägte Projekt von Architekt Richard Hächler für den grossen Fabrikneubau der Wisa-Gloria wurde 1930 in Stahlbeton und mit Flachdach verwirklicht. Allerdings erhielt der Bau dann 1943 ein zusätzliches Geschoss und ein Walmdach.

Von der Knaben- und der Mädchenbezirksschule zur Bezirksschule


Auch auf die Schulorganisation müssen wir noch einen Blick werfen. Seit dem Mittelalter gab es die Lateinschule. Diese vermittelte den jungen Leuten, die später studieren wollten, die Vorbildung für den Besuch der Hochschulen. Die Lateinschule wurde ab 1817 mit der mittleren und oberen Knabenschule zur Sekundarschule verschmolzen. Mit dem neuen Schulgesetz von 1835 wurde diese Sekundarschule in die Bezirksschule umgewandelt, die nur von Knaben besucht werden konnte. 1874 beschloss die Gemeinde die Einführung einer Mädchenbezirksschule. Fortan wurden die beiden Bezirksschulen getrennt geführt, wobei die Belange der Knabenbezirksschule immer den Vorrang genossen. Die beiden Schulen belegten im alten Schulhaus unterschiedliche Geschosse. Allerdings wurden Knaben und Mädchen in den Fächern Englisch, Italienisch, Latein, Griechisch und Gesang gemeinsam unterrichtet. Auf das Schuljahr 1920/21 wurden Knaben- und Mädchenbezirksschule zu einer Bezirksschule vereinigt. Fortan genossen Mädchen und Knaben den Unterricht in derselben Klasse. Andere Bezirksschulen, z.B. Aarau, kannten noch in den 1960er-Jahren getrennte Klassen für Mädchen und Knaben. Auch in Lenzburg blieb die Geschlechtertrennung in gewissen Bereichen erhalten. So war z.B. das südliche Treppenhaus des Bezirksschulhauses den Knaben, das nördliche den Mädchen vorbehalten. Desgleichen diente der nördliche Teil des Pausenplatzes den Mädchen, während sich die Knaben in der südlichen Hälfte tummelten.

Bild: Beginn der Aushubarbeiten für das Bezirksschulhaus; deutlich zu erkennen ist die Dominanz der Männer mit den Schaufeln; nach einem Bagger sucht man vergebens.
 Quelle: Festschrift zur Einweihung des Bezirksschulhauses

Renovationen im Laufe der Zeit


Das Bezirksschulhaus mit dem Aula-Anbau ist das weitaus grösste aller Lenzburger Schulgebäude. Der Bau dieses grossen Gebäudes hat gemäss der von der Gemeindeversammlung am 2. November 1931 genehmigten Bauabrechnung 1’161’040 Franken gekostet. Im Laufe der Zeit sind an diesem Gebäude immer wieder Renovations- und Umbauarbeiten ausgeführt worden. Obwohl nur Teile des Gebäudes betreffend, kosteten diese bereits mehr als der seinerzeitige Bau (was uns die Geldentwertung deutlich vor Augen führt). Für den Anschluss an die Fernheizung und die Erneuerung der elektrischen Installationen im Bezirksschulhaus bewilligte der Einwohnerrat 1980 1’247’210 Franken. Die Stimmberechtigten hiessen am 20. Mai 1984 einen Kredit von 3’140’000 Franken für die zweite Etappe der Erneuerung der Schulanlage Angelrain gut. Diese Arbeiten betrafen vor allem das Bezirksschulhaus und umfassten u.a. eine Fassadenrenovation mit Einbau neuer isolierverglaster Fenster mit Aluprofilen, den Ausbau von Schulraum in einem Teil des geräumigen Dachgeschosses und weitere Arbeiten. Leider wiesen die damals eingebauten Alu-Fenster Mängel auf und haben sich nicht bewährt. Zusätzliche Probleme ergaben sich aus dem Konkurs des Lieferanten.

Einsturz der Deckenverkleidung der Pausenhalle


Einen Schreckmoment erlebten alle Beteiligten am Freitag, 3. Juni 1994. Ca. 15 Minuten nach der 10-Uhr-Pause stürzte die gesamte, aus der Bauzeit des Bezirksschulhauses stammende heruntergehängte Decke über der Pausenhalle ein. Glücklicherweise hielt sich im Zeitpunkt des Ereignisses niemand in der Pausenhalle auf, so dass keine Personen zu Schaden kamen. Nicht auszudenken, welche verheerenden Folgen der Zwischenfall gehabt hätte, wenn die Konstruktion während der 10-Uhr-Pause eingestürzt wäre. Die möglichen Ursachen des Einsturzes wurden von einem Ingenieurbüro untersucht, konnten aber nicht eindeutig bestimmt werden. Mit grösster Wahrscheinlichkeit dürfte das allmähliche Austrocknen der Lattung, an welcher die Deckenkonstruktion mit Nägeln befestigt war, das Ereignis ausgelöst haben.
Bild: Pausenhalle mit eingestürzter Deckenverkleidung
Quelle: Fotosammlung Nussbaum, Museum Burghalde Lenzburg, BSH-479
Aus dem Bezirksschulhaus wird das Schulhaus Bleicherain

Im Zusammenhang mit der Umstellung des aargauischen Schulsystems von 5 Jahren Primarschule und 4 Jahren Oberstufe auf 6 Jahre Primarschule und 3 Jahre Oberstufe beschlossen Stadtrat und Schulpflege, in der Schulanlage Lenzhard ein Oberstufenzentrum zu schaffen, in welchem alle Abteilungen der Sekundarstufe 1 bzw. Oberstufe geführt werden. Die Schulanlage Angelrain wurde zum Zentrum für die Primarschule bestimmt. Ihr sollte auch das damals mehr als 80jährige Bezirksschulhaus dienen, das entsprechend zu renovieren und umzubauen war.
Um diese schulorganisatorische Änderung umsetzen zu können, musste zuerst die Schulanlage Lenzhard teilweise umgebaut und mit einem Anbau erweitert werden. Dank dem 2011/12 neu erstellten Schulhaus Mühlematt bestand zusammen mit den noch vorhandenen, zum Abbruch vorgesehenen Pavillons in der Schulanlage Angelrain genügend Platz, um alle Primarschulabteilungen unterzubringen, bevor der Umbau des ehemaligen Bezirksschulhauses zum Schulhaus Bleicherain umgesetzt war.
Im Sommer 2016 zog die Bezirksschule in das neue Oberstufenzentrum Lenzhard ein. Anschliessend wurde das Schulhaus Bleicherain einem Umbau und einer eingehenden, sorgfältigen Renovation unterzogen. Dafür bewilligten die Stimmberechtigten einen Kredit von 17’550’000 Franken. Das ist 15 Mal so viel, wie der Neubau des grossen Gebäudes 1929/30 gekostet hatte! Es galt, aus je zwei kleinen Schulzimmern von 50 m2 ein der Normgrösse von 70 m2 entsprechendes Unterrichtszimmer und einen Gruppenraum zu schaffen. Die Alu-Fenster, welche sich nicht bewährt hatten und zudem das Erscheinungsbild des Hauses beeinträchtigten, wurden durch Fenster in annähernd originaler Gestaltung, aber mit heutigen Energiedämmwerten ersetzt. Um die qualitativ hochstehende Fassade zu erhalten, wurde überall, wo es möglich war, eine Wärmedämmung auf der Innenseite verwirklicht.
Im renovierten Schulhaus Bleicherain stehen der Primarschule neu 10 Klassenzimmer, mehrere Gruppenräume sowie Spezial-Unterrichtsräume zur Verfügung. Ausserdem hat hier die Musikschule im Erdgeschoss zahlreiche Musikzimmer und weitere Räume für Unterricht und Gruppenspiel im ehemaligen Abwartshaus und im 1. Stock erhalten. Die beengten und durch ungenügende Schalldämmung gekennzeichneten Verhältnisse im Musikschulhaus an der Angelrainstrasse 4 fanden damit ein Ende.
Dass die Lenzburger Stimmbürger 1928 nicht den Mut hatten, dem architektonisch wegweisenden Projekt Schmidt/Hächler zuzustimmen, mag man heute bedauern. Allerdings bot die damals vorgezogene Lösung mit Walmdach den Vorteil, dass im voluminösen Dachgeschoss nun zahlreiche Unterrichts- und Nebenräume untergebracht werden konnten, die andernfalls eine möglicherweise nicht realisierbare Aufstockung des Gebäudes erfordert hätten.
Die Geschichte der Schulanlage Angelrain wird uns auch in der nächsten «Zeitreise» noch beschäftigen, da wir bis jetzt ja nur die ersten beiden Schulhäuser von 1903 und 1930 behandelt haben. In den letzten Jahrzehnten hat sich auf diesem Areal noch einiges abgespielt, über das berichtet werden soll.
Titelbild: Das renovierte Schulhaus Bleicherain mit seinem markanten Erscheinungsbild; man beachte die dezente Belichtung der im Dachgeschoss eingerichteten Räume.
 Quelle: Vorlage zur Urnenabstimmung vom 9. Februar 2014