Leseecke

«Anatol abholen» – Die Geschichte einer Familie in der Odysee unseres Schulsystems

Ein eindringlicher Blick auf Elternschaft und besondere Bedürfnisse.

Von Anja Meyer

Lea Gottheils «Anatol abholen» ist ein eindringlicher und schonungsloser Roman, der die Herausforderungen der Elternschaft und die Schwierigkeiten von Kindern, welche nicht in das gängige System passen, thematisiert. Im Mittelpunkt der Geschichte steht Jil, eine junge Mutter, die sich mit ihrem Partner Matthias um die Erziehung ihrer Kinder Anatol und Pamina kümmert. Anatol, der an ADHS leidet, hat es besonders schwer im Alltag. Die wiederholte Herausforderung, Anatol aufgrund seiner Schwierigkeiten im Kindergarten abzuholen, wird zum Symbol für die Belastungen des Elternseins. Denn hinter dieser Handlung verbirgt sich Jils Auseinandersetzung mit ihren eigenen Ängsten und der Balance zwischen Muttersein und Selbstverwirklichung. Jil, die einst Künstlerin werden und ein freies Leben führen wollte, droht an ihrer Rolle als Mutter zu zerbrechen.
Die Autorin beschreibt einfühlsam, aber auch nüchtern, wie unvorbereitet Schulen und Institutionen auf Kinder reagieren, die anders sind. Sie spiegelt die Realität zahlreicher Familien, die im konventionellen Schulsystem und in einer überlasteten Gesundheitsversorgung nach Unterstützung suchen und sich doch allein fühlen.
Der Schreibstil ist knapp und direkt. Die Emotionen der Figuren werden lebendig geschildert, sodass sich Leser:innen leicht in deren Gedanken und Gefühle hineinversetzen können. Besonders die Spannungen zwischen Jil und Matthias, sowie die emotionale Belastung der Elternschaft, werden authentisch dargestellt.
Insgesamt ist «Anatol abholen» ein warmherziger und tiefgründiger Roman, der sowohl die Herausforderungen des Familienlebens als auch die Schwierigkeiten im Umgang mit besonderen Bedürfnissen realistisch und berührend darstellt.

Dieses Buch kann in der Stadtbibliothek ausgeliehen werden.
Gottheil, Lea / Anatol abholen, Kommode Verlag, Zürich 2024.