Zeitreise

Als die Italiener kamen

Zu Lenzburgs Bevölkerung zählten ab dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in zunehmendem Masse auch ausländische Staatsangehörige.

Von Christoph Moser

Einen Höhepunkt erreichte ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung mit 11,4 % vor dem ersten Weltkrieg. Danach sank ihr Anteil bis zu einem Tiefstand bei 3,5 % im zweiten Weltkrieg. Seither stieg der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung von 5,4 % 1950 auf 16 % 1960, 21 % 1970 bis 1980 und erreichte 2000 mit 30,9 % sein Maximum. Bis zum zweiten Weltkrieg handelte es sich hauptsächlich um Bedienstete in privaten Haushalten, Angestellte im Gastgewerbe und in der Landwirtschaft, die vorwiegend aus Deutschland und Österreich stammten.

Die Italiener – in der Wirtschaft hoch willkommen – die Bevölkerung reagiert teils mit Skepsis


Nach dem zweiten Weltkrieg erlebte die Schweizer Wirtschaft einen beispiellosen Aufschwung und brauchte dringend zusätzliche Arbeitskräfte. Das war die Stunde der Italiener. Vorwiegend jüngere Männer und Frauen, hauptsächlich aus dem Süden Italiens, kamen als hoch willkommene Arbeitskräfte in die Schweiz. Damals galt das Saisonnierstatut: Die meisten reisten als Arbeitskräfte für eine Saison in die Schweiz ein und mussten dazwischen wieder in ihr Heimatland zurückkehren, bevor sie für die nächste Saison wieder einreisten. An einen dauernden Aufenthalt in der Schweiz oder an einen Familiennachzug war nicht zu denken. Es ist eine Eigenart vieler Schweizer, auf Fremdes, bisher nicht Gekanntes mit Argwohn zu reagieren. Das bekamen auch die Italiener zu spüren. Von 1965 bis 1988 wurden insgesamt sechs Volksinitiativen lanciert, in welchen eine Beschränkung der Zahl der Ausländer verlangt wurde. Sie wurden zwar alle abgelehnt, die «Schwarzenbach-Initiative» allerdings am 7. Juni 1970 mit 54 % Nein gegen 46 % Ja nur knapp (8 Kantone stimmten ihr zu).

Unterkünfte für die Saisonniers


Nach dem zweiten Weltkrieg herrschte in Lenzburg noch für einige Jahre ein ausgeprägter Wohnungsmangel, so dass teilweise auch auswärtigen Schweizern der Zuzug wegen Wohnungsmangels verwehrt wurde. Mietwohnungen in grösserer Zahl wurden erst nach 1950 und vor allem in den 1960er-Jahren erstellt. Wo also konnte man die zahlreichen ledigen oder ohne Familie und nur saisonal anwesenden italienischen Arbeiterinnen und Arbeiter unterbringen? Es blieb nur die Lösung mit Massenunterkünften, zum Beispiel Baracken, wie man sie vom Militärdienst kannte. Eine der ersten Firmen, die in grosser Zahl Italienerinnen und Italiener beschäftigte, war die Schweizerische Leinenindustrie in Niederlenz (die nachmalige Hetex). Sie richtete die ehemalige Nagelfabrik als Unterkunft für die Saisonniers ein. Das ist das letzte Gebäude auf Lenzburger Boden vor dem Autobahnviadukt, links der Strasse in Richtung Niederlenz.

Die Nagelfabrik, die zum Arbeiterwohnheim wurde.

Daneben gab es Baracken beim Baugeschäft Max Fischer AG an der Bahnhofstrasse (vis-à-vis der Einmündung der Angelrainstrasse; Betrieb 2008 nach Niederlenz verlegt) oder beim Baugeschäft Th. Bertschinger AG (es befand sich an der Sägestrasse, wo heute der Landi-Markt steht). Später wurde am Niederlenzer Kirchweg, neben der seinerzeitigen Hero-Garage, eine grosse Baracke aufgestellt, die jahrzehntelang als Unterkunft diente.
Ein Blick in die im Stadtarchiv aufbewahrten Bände der Ausländerkontrolle zeigt, wie die Arbeiterinnen und Arbeiter aus unserem südlichen Nachbarland ab dem Jahre 1947 alljährlich in zunehmender Zahl einreisten und jeweils im Winter wieder ausreisten. War vorerst der Vermerk SLI in der Rubrik «Arbeitgeber» überwiegend, findet man von Jahr zu Jahr mehr den Vermerk «Hero» oder auch «Zeiler AG» sowie natürlich die Baugeschäfte, von denen es damals noch eine grössere Zahl gab.

Die zwei Hero-Neubauten zur Unterbringung von Arbeitskräften an der Wolfsackerstrasse.

Die Hero war es denn auch, die das Unterbringungsproblem mit zwei Neubauten löste: Sie erstellte 1958 an der Wolfsackerstrasse 4 und 6 zwei Wohngebäude mit Zimmern für Gastarbeiter mit Gemeinschaftsräumen und Küchen im Untergeschoss. Diese Gebäude sind Ende der 1990er-Jahre zu Reihen-Einfamilienhäusern umgebaut worden.

Die «Piazza»


Was machten die vielen Saisonniers in ihrer Freizeit, z.B. abends sowie samstags und sonntags? Wer Italien kennt, weiss, dass es die Piazza gibt, wo sich das kommunikative Volk der Italiener zum Gedankenaustausch trifft. Nun fehlte damals in Lenzburg eine solche Piazza, wie sie das Kennzeichen italienischer Städte ist. Durch die Altstadt, in der wir heute durchaus entsprechende Plätze finden, brauste damals der Durchgangsverkehr, die Rathausgasse wurde durch den «Fahrbahn-Kanal» zerschnitten. Als Ersatz trafen sich die Italiener rund um den Bahnhof. Vermutlich war ja der Bahnhof auch die Verbindung zu ihrer Heimat: Von hier aus fuhren sie vor Weihnachten mit den Extrazügen mit den damals üblichen italienischen Waggons mit Doppelfenstern mit Sack und Pack in den Süden. Reggio di Calabria und Lecce waren die Destinationen dieser Extrazüge. Im Übrigen fuhren damals in Lenzburg die zahlreichen Transitgüterzüge der Gotthardlinie durch, die in grosser Zahl italienische Güterwagen mit ihren typischen Formen mitführten. Für die Italiener, die um den Bahnhof flanierten, ein Gruss aus der Heimat.

Bahnhof Lenzburg, 1972

Der Autor, ein Eisenbahn-Fan, der in den 60er-Jahren als Bub und Jüngling häufig das Geschehen am Bahnhof verfolgte, mag sich noch gut an die Saisonnier-Extrazüge erinnern. Schon Stunden vor der angekündigten Abfahrtszeit fanden sich die Reisewilligen am Bahnhof ein. Und immer und immer wieder fragten sie die Abfertigungsbeamten: «Quando parte il treno per l’Italia?». Das konnte ich damals nicht begreifen; denn es war ja angeschrieben, wann der Zug fährt, und im Allgemeinen fuhren diese Züge auch pünktlich. Die Erklärung fand ich erst viel später bei Aufenthalten in Italien: Man kann sich nicht stur auf Aushängefahrpläne und Anschriften verlassen, also ist es immer ratsam, sich zu erkundigen, wann oder wo ein Zug oder Bus wirklich fährt. Für die Italiener war also diese Nachfrage etwas ganz Normales.

Die Zeiten ändern sich – man kommt sich gegenseitig näher


Mit der Zeit wurde die Ausländer-Gesetzgebung humaner, und in zunehmendem Masse konnten die Fremdarbeiter ihre Familienmitglieder in die Schweiz holen und erhielten Jahresaufenthalts- oder Niederlassungsbewilligungen. Die Kinder wuchsen in der Schweiz auf und besuchten hier die Schule. Dies begünstigte die Assimilation und das gegenseitige Verständnis. Viele Secondos, Kinder der ersten Einwanderer, nehmen heute bedeutende Positionen in unserer Gesellschaft ein. Eine beachtliche Zahl von ihnen hat das Schweizer Bürgerrecht erlangt.
Bis 1980 machten die Italiener etwa 2/3 der ausländischen Wohnbevölkerung aus. Heute sind sie eine Minderheit unter zahlreichen Nationen, namentlich aus dem Balkan, aber auch aus Deutschland. Die Akzeptanzprobleme der Schweizer haben sich auf Leute aus Staaten mit muslimischer Religion sowie aus Afrika und Asien verlagert.

Vor dem «Ritrovo» war das Cirocolo ACLI in einer Hero-Baracke am Niederlenzer-Kirchweg untergebracht.


Die «Barista» im Gastarbeiterzentrum «Circolo ACLI» am Niederlenzer Kirchweg, 1969.

Auch wettertaugliche Piazza-Strukturen gibt es heute in Lenzburg: Im 1994 eingeweihten katholischen Pfarreizentrum steht mit dem «Ritrovo (Circolo ACLI)» und Nebenräumen eine unseren schweizerischen Witterungsverhältnissen angepasste Piazza zur Verfügung, wo Kälte und Nässe draussen bleiben.

Buchtipp und Veranstaltungshinweis von We Love Lenzburg:

Der in Lenzburg aufgewachsene italienische Journalist Concetto Vecchio hat mit «Jagt sie weg! Die Schwarzenbach-Initiative und die italienischen Migrante » ein Buch passend zum obigen Beitrag geschrieben und ist in einer Lesung am 27. August 2020, 19.15 Uhr, im Alten Gemeindesaal zu hören. Die Veranstaltung ist ausverkauft, man kann sich nur noch für die Warteliste anmelden.
Titelbild: «Fest della Fraternità» hinter der kath. Kirche Lenzburg.