Im März 2024 weihten die Schülerinnen und Schüler zusammen mit den Behörden den Anbau des Schulhauses Mühlematt ein. Dieser war durch das schnelle Wachstum der Schülerzahlen ausgelöst worden, welches seinerseits auf die unerwartet schnelle Zunahme der Lenzburger Bevölkerung von 2010 bis 2019 zurückzuführen war. Dieses jüngste Glied der Schulanlage Angelrain regt dazu an, sich mit der Geschichte dieser grössten Schulanlage der Stadt Lenzburg zu beschäftigen.
Das hünerwadelsche Handelshaus am Freischarenplatz, Sitz der Indienne-Druckerei von Marx Hünerwadel, konnte die Stadt 1788 erwerben und fortan als Schulhaus nutzen. Dessen Eigentümer, der als reichster Lenzburger galt, war durch die französische Textilimportsperre von 1785 sowie den Verlust von Schiffsladungen in finanzielle Bedrängnis geraten. Aus seiner Not konnte er sich nur durch Veräusserung eines grossen Teils seines Vermögens retten, und so kam die Stadt günstig zu einem für Schulzwecke geeigneten grossen Gebäude. Dieses Haus beherbergte im 19. Jahrhundert die Lenzburger Schulen, die sich mit dem Wandel der Gesellschaft bis hin zur Bezirksschule entwickelten. Es bot von 1839 bis 1846 auch Raum für das erste aargauische Lehrerseminar unter der Leitung von Augustin Keller und diente später zusätzlich der gewerblichen und kaufmännischen Berufsbildung. Die vielseitige Geschichte dieses Gebäudes wird zu gegebener Zeit einmal das Thema einer Zeitreise bilden.
1891 wies die Rechnungskommission der Einwohnergemeinde darauf hin, dass das Schulhaus in kurzer Zeit den Anforderungen nicht mehr genügen werde und regte an, einen Schulhausbaufond anzulegen. Davon sah man indessen vorderhand ab, da die finanzielle Situation der Gemeinde damals sehr angespannt war. Denn der Nationalbahnkonkurs vom Februar 1878 hatte die Gemeinde an den Rand des Ruins gebracht. Lenzburg war am Aktienkapital der Bahn beteiligt und hatte eine Garantie in der Höhe von 1,5 Millionen Franken für eine Obligationenanleihe abgegeben. Die Gemeinde stand damals einem finanziellen Manko von rund 2 Millionen Franken gegenüber (nach heutigem Geldwert 100 Millionen). Alle Vermögenswerte der Ortsbürgergemeinde mussten verpfändet und der Steuerfuss der Einwohnergemeinde erhöht werden. Die Schulbaufrage wurde erst wieder aktuell, als der Inhaber der Malaga-Kellereien, Alfred Zweifel, 1896 einen Betrag von 10’000 Franken für den Schulhaus-Neubau spendete und ihm eine Reihe weiterer Bürger folgte. So kam schliesslich eine Summe von Fr. 28’456.40 zusammen (die man mindestens mit 15 multiplizieren muss, damit sie heutigem Wert entspricht). Wie bedeutsam diese Spenden waren, zeigt ein Vergleich mit den Baukosten für den Schulhaus-Neubau: 215’000 Franken sowie 21’000 Franken für den Landerwerb. An die Spender erinnert eine Donatorentafel im Treppenhaus des Angelrainschulhauses.
Angeregt durch die Spende von Alfred Zweifel, beschloss die Gemeinde 1897 den Bau eines neuen Schulhauses. Dabei gab es längere Diskussionen über den Standort. Am 26. Dezember 1900 entschied man sich für den Bauplatz am Angelrain. Dort erwarb die Gemeinde das nötige Land vom Bleichereiunternehmen Hünerwadel in Liquidation. Die Standortwahl hat zu einer bemerkenswerten städtebaulichen Situation geführt: Das neue Schulhaus liegt westlich des Aabachs auf halber Höhe des Angelrain-Hangs genau gegenüber dem alten, östlich des Aabachs gelegenen alten Schulhaus. Beide werden durch den ursprünglich auf seiner ganzen Länge in gerader Linie vom alten Schulhaus zum Angelrainschulhaus führenden Schulhausweg verbunden. Diese gerade Linie ist erst durch den Neubau der Passage beim 1979 eröffneten Migros Markt gestört worden.
Mit dem grundsätzlichen Baubeschluss im Dezember 1900 wurde auch eine Baukommission bestellt, deren Mitglieder hier erwähnt seien, weil sie einen interessanten Einblick in die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse in Lenzburg bieten:
Victor Hürbin, Direktor der Strafanstalt, Präsident
Emil Bertschinger, Gemeinderat, Vizepräsident
Richard Hünerwadel, Bauamtsverwalter, Aktuar
Rudolf Hächler-Wehrli, Schreinermeister, Gemeinderat
Heinrich Irmiger, Oberrichter, ab 1902 Direktor der Hypothekarbank Lenzburg, Präsident der Schulpflege
Jakob Bertschi, Arzt
Fritz Neeser, Fabrikant (spätere WISA-GLORIA)
Der Gemeinderat liess die Pläne in einem Wettbewerb ausarbeiten. Ausgewählt wurde das Projekt von Theodor Bertschinger, jun. (1875-1972), dem Sohn des Baumeisters und Firmengründers Theodor Bertschinger-von Greyerz. Auch markante Schulhäuser in der Umgebung von Lenzburg, nämlich Hallwil (1904), Rupperswil (1905) Staufen (1906) Hägglingen (1908) und Othmarsingen (1911) wurden nach seinen Plänen gebaut.
Mit den Bauarbeiten wurde am 1. Mai 1902 begonnen. Die Bauleitung oblag Baumeister Theodor Bertschinger, sen. Die Erd- und Maurerarbeiten führte das Baugeschäft Fischer aus. Bereits nach einem Jahr, am 17. Juli 1903, konnte das Schulhaus eingeweiht werden. Dies ist eine kurze Bauzeit, zumal damals der Baugrubenaushub und sämtliche weiteren Arbeiten noch ohne mechanische Geräte wie Bagger oder Kräne, sondern in Handarbeit ausgeführt werden mussten. Das Schulhaus war damals nur in der Mitte, im Bereich des Singsaals, viergeschossig; links und rechts davon bestanden nur 3 Geschosse.
Ein interessantes – und im Vergleich mit heutigen Verhältnissen – bemerkenswertes Detail: Wie wir den Ausführungen in der Denkschrift zur Einweihung des neuen Gemeindeschulhauses in Lenzburg von J. Keller-Ris, Rektor, entnehmen können (Seite 95), betrug der Rauminhalt eines Schulzimmers für 70 Schüler 320 Kubikmeter, die Bodenfläche pro Schüler 1,20 Quadratmeter. Das war eine grosse Schülerzahl, welche die Lehrer damals zu bändigen hatten! Aber noch Mitte der 1950er-Jahre, als der Verfasser dieser Zeilen im Parterre des Angelrainschulhauses die Unterstufe besuchte, waren es bei der damaligen Unterstufenlehrerin Frieda Wolleb über 50 Schüler. Auch in der Mittelstufe bei Lehrer Josef Meier waren wir noch mehr als 40. Allerdings waren die Schüler damals auch «einfacher» zu handhaben: Es gab noch keine aus Italien oder dem Balkan stammenden Mitschüler, und mit körperlichen Strafen wie Hieben auf die Wangen oder Ohrfeigen oder Traktur mit dem Lineal mussten die damaligen Lehrer noch keine Zurückhaltung üben.
Der künstlerische Schmuck des Angelrainschulhauses stammt aus den Jahren 1904 und 1905. Er wurde von zwei Lenzburger Künstlern, dem Maler Werner Büchli (1871-1942) und dem Bildhauer Arnold Hünerwadel (1877-1945) geschaffen. Weit herum bekannt sind die vier Sgraffiti mit der Darstellung von Tell, Winkelried, Zwingli und Pestalozzi auf der Westseite des Schulhauses. Sie sind in der Zeitreise vom August 2021 abgebildet, welche dem Künstler Werner Büchli gewidmet ist. Ebenso bedeutend und noch reichhaltiger sind die Wandgemälde Büchlis im Singsaal und im Korridor im obersten Geschoss des Schulhauses. Die Bilder im Singsaal befassen sich mit der Musik im Leben (Alpensegen = Naturmusik, Instrumentalspiel, Gesang, Lauten-, Harfen- und Cellospieler). Die Bilder im Gang stellen links das Kräftemessen und Turnen, in der Mitte die wissenschaftliche Forschung (Astronomie) und rechts das Zielen mit Pfeilbogen, also die Wehrhaftigkeit, dar.
Mit grossem künstlerischem Aufwand hat Arnold Hünerwadel die Umgebung der Nischenbrunnen im Gang des ersten und zweiten Obergeschosses gestaltet. Neben und oberhalb dieser Brunnen brachte Hünerwadel Märchenfiguren in Majolikadekor an. Die Steinquader-Pilaster rechts und links des Ostportals hat Hünerwadel je mit einem Terrakottarelief mit Jugendfestmädchen (links) und Tambouren (rechts) geschmückt. Zwischen den Fenstern des ersten und zweiten Obergeschosses prangt über dem Ostportal ein fein gestaltetes Sandsteinrelief, bei dem Knaben und Mädchen eine Girlande mit der Inschrift in der Mitte halten: «unserer Jugend».
Insgesamt zeichnet sich das Angelrainschulhaus durch kunstvoll gestaltete, formenreiche Fassaden und einen reichhaltigen künstlerischen Schmuck aus. Es ist ein wertvoller Zeuge von Architektur und Kunst des beginnenden 20. Jahrhunderts.
Während des zweiten Weltkrieges war an einen normalen Unterricht nicht zu denken. Wie aus zahlreichen Einträgen in der Chronik der Lenzburger Neujahrsblätter 1940 bis 1947 hervorgeht, waren die Lenzburger Schulhäuser und insbesondere das Angelrainschulhaus immer wieder durch Truppen belegt. So ist zum Beispiel am 20. November 1939 vermerkt: «Für die Unterbringung von Truppen ist das ganze Gemeindeschulhaus sowie Parterre und erster Stock des Bezirksschulhauses (= heute Schulhaus Bleicherain) geräumt worden. Die Schüler werden in Lokalen von religiösen Vereinigungen sowie zum Teil im Verwaltungsgebäude Metzgplatz unterrichtet.» Erst am 17. Januar 1940 heisst es, infolge Entlassung von Truppen werden ab 29. Januar 1940 im Gemeindeschulhaus einige Schulzimmer frei. Den Neujahrsblättern 1947 entnehmen wir: «Wegen Heizmaterialmangels wurde die Gemeindeschule 1945 nicht bezogen, sondern die Klassen waren, wie während des Krieges, im Bezirksschulhaus und im Verwaltungsgebäude untergebracht.» Nach der argen Strapazierung durch die militärischen Belegungen bedurfte das Schulhaus nach dem Kriegsende einer dringenden Renovation. Diese Renovationsarbeiten wurden aber hinausgeschoben wegen Materialmangels und zu hoher Preise. Erst 1947 fand eine Renovation im Innern statt.
Da nach dem zweiten Weltkrieg ein starkes Bevölkerungswachstum einsetzte, wurde Schulraum zur Mangelware. Daher wurde das bisher ausser dem Mitteltrakt mit dem Singsaal nur dreigeschossige Angelrainschulhaus um ein zusätzliches drittes Geschoss aufgestockt und erhielt damit sein heutiges Aussehen. Dieser verhältnismässig geringe Ausbau kostete 196’000 Franken. Im Vergleich mit den seinerzeitigen Baukosten ohne Land von rund 215’000 Franken für den Schulhausneubau von 1903 lässt sich erkennen, wie gross die Geldentwertung zwischen 1900 und der Mitte der 1950er-Jahre ist: Der Ausbau von 9 auf 11 Schulzimmer kostete praktisch gleich viel wie der seinerzeitige Neubau.
Die weitere Entwicklung der Schulanlage Angelrain mit dem Bau der Angelrainturnhalle, des Bezirksschulhauses, der Turnhalle Mühlematt (abgebrochen), des «Providuriums» der Schulpavillons, des Neubaus der Dreifachturnhalle sowie des Baus und Ausbaus des Mühlemattschulhauses und der Gesamtrenovation des Schulhauses Bleicherain wird Gegenstand der nächsten beiden Zeitreisen bilden.
Bis 1903 ein einziges Lenzburger Schulhaus
Das hünerwadelsche Handelshaus am Freischarenplatz, Sitz der Indienne-Druckerei von Marx Hünerwadel, konnte die Stadt 1788 erwerben und fortan als Schulhaus nutzen. Dessen Eigentümer, der als reichster Lenzburger galt, war durch die französische Textilimportsperre von 1785 sowie den Verlust von Schiffsladungen in finanzielle Bedrängnis geraten. Aus seiner Not konnte er sich nur durch Veräusserung eines grossen Teils seines Vermögens retten, und so kam die Stadt günstig zu einem für Schulzwecke geeigneten grossen Gebäude. Dieses Haus beherbergte im 19. Jahrhundert die Lenzburger Schulen, die sich mit dem Wandel der Gesellschaft bis hin zur Bezirksschule entwickelten. Es bot von 1839 bis 1846 auch Raum für das erste aargauische Lehrerseminar unter der Leitung von Augustin Keller und diente später zusätzlich der gewerblichen und kaufmännischen Berufsbildung. Die vielseitige Geschichte dieses Gebäudes wird zu gegebener Zeit einmal das Thema einer Zeitreise bilden.
Bild: Das bis 1903 allen Schulstufen dienende, zuletzt als KV-Schulhaus genutzte hünerwadelsche Handelshaus von 1759/60; Aufnahme von ca. 1940. Quelle: historische Fotografie
Schulraumnot; Bemühungen für einen Schulhaus-Neubau
1891 wies die Rechnungskommission der Einwohnergemeinde darauf hin, dass das Schulhaus in kurzer Zeit den Anforderungen nicht mehr genügen werde und regte an, einen Schulhausbaufond anzulegen. Davon sah man indessen vorderhand ab, da die finanzielle Situation der Gemeinde damals sehr angespannt war. Denn der Nationalbahnkonkurs vom Februar 1878 hatte die Gemeinde an den Rand des Ruins gebracht. Lenzburg war am Aktienkapital der Bahn beteiligt und hatte eine Garantie in der Höhe von 1,5 Millionen Franken für eine Obligationenanleihe abgegeben. Die Gemeinde stand damals einem finanziellen Manko von rund 2 Millionen Franken gegenüber (nach heutigem Geldwert 100 Millionen). Alle Vermögenswerte der Ortsbürgergemeinde mussten verpfändet und der Steuerfuss der Einwohnergemeinde erhöht werden. Die Schulbaufrage wurde erst wieder aktuell, als der Inhaber der Malaga-Kellereien, Alfred Zweifel, 1896 einen Betrag von 10’000 Franken für den Schulhaus-Neubau spendete und ihm eine Reihe weiterer Bürger folgte. So kam schliesslich eine Summe von Fr. 28’456.40 zusammen (die man mindestens mit 15 multiplizieren muss, damit sie heutigem Wert entspricht). Wie bedeutsam diese Spenden waren, zeigt ein Vergleich mit den Baukosten für den Schulhaus-Neubau: 215’000 Franken sowie 21’000 Franken für den Landerwerb. An die Spender erinnert eine Donatorentafel im Treppenhaus des Angelrainschulhauses.
Bild: Die Donatorentafel im Angelrainschulhaus über die Spenden von 1897-1901. Quelle: Foto cm
Der Angelrain wird als Standort bestimmt
Angeregt durch die Spende von Alfred Zweifel, beschloss die Gemeinde 1897 den Bau eines neuen Schulhauses. Dabei gab es längere Diskussionen über den Standort. Am 26. Dezember 1900 entschied man sich für den Bauplatz am Angelrain. Dort erwarb die Gemeinde das nötige Land vom Bleichereiunternehmen Hünerwadel in Liquidation. Die Standortwahl hat zu einer bemerkenswerten städtebaulichen Situation geführt: Das neue Schulhaus liegt westlich des Aabachs auf halber Höhe des Angelrain-Hangs genau gegenüber dem alten, östlich des Aabachs gelegenen alten Schulhaus. Beide werden durch den ursprünglich auf seiner ganzen Länge in gerader Linie vom alten Schulhaus zum Angelrainschulhaus führenden Schulhausweg verbunden. Diese gerade Linie ist erst durch den Neubau der Passage beim 1979 eröffneten Migros Markt gestört worden.
Mit dem grundsätzlichen Baubeschluss im Dezember 1900 wurde auch eine Baukommission bestellt, deren Mitglieder hier erwähnt seien, weil sie einen interessanten Einblick in die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse in Lenzburg bieten:
Victor Hürbin, Direktor der Strafanstalt, Präsident
Emil Bertschinger, Gemeinderat, Vizepräsident
Richard Hünerwadel, Bauamtsverwalter, Aktuar
Rudolf Hächler-Wehrli, Schreinermeister, Gemeinderat
Heinrich Irmiger, Oberrichter, ab 1902 Direktor der Hypothekarbank Lenzburg, Präsident der Schulpflege
Jakob Bertschi, Arzt
Fritz Neeser, Fabrikant (spätere WISA-GLORIA)
Das Angelrainschulhaus, ein Projekt von Theodor Bertschinger jun.
Der Gemeinderat liess die Pläne in einem Wettbewerb ausarbeiten. Ausgewählt wurde das Projekt von Theodor Bertschinger, jun. (1875-1972), dem Sohn des Baumeisters und Firmengründers Theodor Bertschinger-von Greyerz. Auch markante Schulhäuser in der Umgebung von Lenzburg, nämlich Hallwil (1904), Rupperswil (1905) Staufen (1906) Hägglingen (1908) und Othmarsingen (1911) wurden nach seinen Plänen gebaut.
Bild: Das Angelrainschulhaus bei der Einweihung am 17. Juli 1903. Quelle: Bildband Liebes altes Lenzburg, S. 84
Mit den Bauarbeiten wurde am 1. Mai 1902 begonnen. Die Bauleitung oblag Baumeister Theodor Bertschinger, sen. Die Erd- und Maurerarbeiten führte das Baugeschäft Fischer aus. Bereits nach einem Jahr, am 17. Juli 1903, konnte das Schulhaus eingeweiht werden. Dies ist eine kurze Bauzeit, zumal damals der Baugrubenaushub und sämtliche weiteren Arbeiten noch ohne mechanische Geräte wie Bagger oder Kräne, sondern in Handarbeit ausgeführt werden mussten. Das Schulhaus war damals nur in der Mitte, im Bereich des Singsaals, viergeschossig; links und rechts davon bestanden nur 3 Geschosse.
Ein interessantes – und im Vergleich mit heutigen Verhältnissen – bemerkenswertes Detail: Wie wir den Ausführungen in der Denkschrift zur Einweihung des neuen Gemeindeschulhauses in Lenzburg von J. Keller-Ris, Rektor, entnehmen können (Seite 95), betrug der Rauminhalt eines Schulzimmers für 70 Schüler 320 Kubikmeter, die Bodenfläche pro Schüler 1,20 Quadratmeter. Das war eine grosse Schülerzahl, welche die Lehrer damals zu bändigen hatten! Aber noch Mitte der 1950er-Jahre, als der Verfasser dieser Zeilen im Parterre des Angelrainschulhauses die Unterstufe besuchte, waren es bei der damaligen Unterstufenlehrerin Frieda Wolleb über 50 Schüler. Auch in der Mittelstufe bei Lehrer Josef Meier waren wir noch mehr als 40. Allerdings waren die Schüler damals auch «einfacher» zu handhaben: Es gab noch keine aus Italien oder dem Balkan stammenden Mitschüler, und mit körperlichen Strafen wie Hieben auf die Wangen oder Ohrfeigen oder Traktur mit dem Lineal mussten die damaligen Lehrer noch keine Zurückhaltung üben.
Ein bedeutender künstlerischer Schmuck für das Angelrainschulhaus
Der künstlerische Schmuck des Angelrainschulhauses stammt aus den Jahren 1904 und 1905. Er wurde von zwei Lenzburger Künstlern, dem Maler Werner Büchli (1871-1942) und dem Bildhauer Arnold Hünerwadel (1877-1945) geschaffen. Weit herum bekannt sind die vier Sgraffiti mit der Darstellung von Tell, Winkelried, Zwingli und Pestalozzi auf der Westseite des Schulhauses. Sie sind in der Zeitreise vom August 2021 abgebildet, welche dem Künstler Werner Büchli gewidmet ist. Ebenso bedeutend und noch reichhaltiger sind die Wandgemälde Büchlis im Singsaal und im Korridor im obersten Geschoss des Schulhauses. Die Bilder im Singsaal befassen sich mit der Musik im Leben (Alpensegen = Naturmusik, Instrumentalspiel, Gesang, Lauten-, Harfen- und Cellospieler). Die Bilder im Gang stellen links das Kräftemessen und Turnen, in der Mitte die wissenschaftliche Forschung (Astronomie) und rechts das Zielen mit Pfeilbogen, also die Wehrhaftigkeit, dar.
Bild: Rechtes der drei Halbrundbilder an der Südwand im Singsaal: Alpensegen (Naturmusik). Quelle: Helden und Propheten, der neu entdeckte Werner Büchly, Stiftung Museum Burghalde Lenzburg, 2021, Seite 15
Mit grossem künstlerischem Aufwand hat Arnold Hünerwadel die Umgebung der Nischenbrunnen im Gang des ersten und zweiten Obergeschosses gestaltet. Neben und oberhalb dieser Brunnen brachte Hünerwadel Märchenfiguren in Majolikadekor an. Die Steinquader-Pilaster rechts und links des Ostportals hat Hünerwadel je mit einem Terrakottarelief mit Jugendfestmädchen (links) und Tambouren (rechts) geschmückt. Zwischen den Fenstern des ersten und zweiten Obergeschosses prangt über dem Ostportal ein fein gestaltetes Sandsteinrelief, bei dem Knaben und Mädchen eine Girlande mit der Inschrift in der Mitte halten: «unserer Jugend».
Bild: Der Nischenbrunnen im 2. Obergeschoss des Angelrainschulhauses mit umgebendem Majolikaschmuck von Arnold Hünerwadel (in der geplättelten Brunnennische ist ein das Kunstwerk störender Anschlag angebracht); man beachte auch den Terrazzoboden mit Kreiselement vor dem Brunnen. Quelle: Foto cm
Insgesamt zeichnet sich das Angelrainschulhaus durch kunstvoll gestaltete, formenreiche Fassaden und einen reichhaltigen künstlerischen Schmuck aus. Es ist ein wertvoller Zeuge von Architektur und Kunst des beginnenden 20. Jahrhunderts.
Truppeneinquartierungen im zweiten Weltkrieg
Während des zweiten Weltkrieges war an einen normalen Unterricht nicht zu denken. Wie aus zahlreichen Einträgen in der Chronik der Lenzburger Neujahrsblätter 1940 bis 1947 hervorgeht, waren die Lenzburger Schulhäuser und insbesondere das Angelrainschulhaus immer wieder durch Truppen belegt. So ist zum Beispiel am 20. November 1939 vermerkt: «Für die Unterbringung von Truppen ist das ganze Gemeindeschulhaus sowie Parterre und erster Stock des Bezirksschulhauses (= heute Schulhaus Bleicherain) geräumt worden. Die Schüler werden in Lokalen von religiösen Vereinigungen sowie zum Teil im Verwaltungsgebäude Metzgplatz unterrichtet.» Erst am 17. Januar 1940 heisst es, infolge Entlassung von Truppen werden ab 29. Januar 1940 im Gemeindeschulhaus einige Schulzimmer frei. Den Neujahrsblättern 1947 entnehmen wir: «Wegen Heizmaterialmangels wurde die Gemeindeschule 1945 nicht bezogen, sondern die Klassen waren, wie während des Krieges, im Bezirksschulhaus und im Verwaltungsgebäude untergebracht.» Nach der argen Strapazierung durch die militärischen Belegungen bedurfte das Schulhaus nach dem Kriegsende einer dringenden Renovation. Diese Renovationsarbeiten wurden aber hinausgeschoben wegen Materialmangels und zu hoher Preise. Erst 1947 fand eine Renovation im Innern statt.
Aufstockung 1954/55
Da nach dem zweiten Weltkrieg ein starkes Bevölkerungswachstum einsetzte, wurde Schulraum zur Mangelware. Daher wurde das bisher ausser dem Mitteltrakt mit dem Singsaal nur dreigeschossige Angelrainschulhaus um ein zusätzliches drittes Geschoss aufgestockt und erhielt damit sein heutiges Aussehen. Dieser verhältnismässig geringe Ausbau kostete 196’000 Franken. Im Vergleich mit den seinerzeitigen Baukosten ohne Land von rund 215’000 Franken für den Schulhausneubau von 1903 lässt sich erkennen, wie gross die Geldentwertung zwischen 1900 und der Mitte der 1950er-Jahre ist: Der Ausbau von 9 auf 11 Schulzimmer kostete praktisch gleich viel wie der seinerzeitige Neubau.
Bild: Die markante, intensiv gestaltete Fassade des Angelrainschulhauses von Osten, aufgenommen 2016. Quelle: Inventar der Denkmalpflege, LEN916
Die weitere Entwicklung der Schulanlage Angelrain mit dem Bau der Angelrainturnhalle, des Bezirksschulhauses, der Turnhalle Mühlematt (abgebrochen), des «Providuriums» der Schulpavillons, des Neubaus der Dreifachturnhalle sowie des Baus und Ausbaus des Mühlemattschulhauses und der Gesamtrenovation des Schulhauses Bleicherain wird Gegenstand der nächsten beiden Zeitreisen bilden.
Titelbild: Das Angelrainschulhaus bei der Einweihung am 17. Juli 1903. Quelle: Bildband Liebes altes Lenzburg, S. 84
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Christoph Moser, 76, war von 1979 bis 2010 Lenzburger Stadtschreiber.
Seit seiner Pensionierung betreut er das Stadtarchiv, verfasst Vorträge zu historischen Themen und wirkt als Stadtführer. Sein Motto: Die Auseinandersetzung mit der Geschichte hilft uns, unsere Gegenwart besser zu verstehen.