Zeitreise

Ein Wunder, dass der alte Gemeindesaal noch steht

1964 wäre der alte Gemeindesaal beinahe abgebrochen worden. Nur dank einer glücklichen Fügung blieb er erhalten. Aber dazu später, denn wir möchten der Geschichte des Gebäudes von Anfang an nachgehen.

Von Christoph Moser

Bilder aus: «Liebes altes Lenzburg»

Von 1415 bis 1798 stand unsere Gegend, der „Berner Aargau“, unter der Herrschaft der gnädigen Herren von Bern. In ihrem Auftrag übte der auf Schloss Lenzburg residierende Landvogt die Staatsgewalt aus. Durch ein Dekret Napoleons entstand 1803 der Kanton Aargau mit seinen 11 Bezirken. Die neuen kantonalen Behörden, Bezirksgerichte, Regierungsstatthalter (Bezirksamtmann), brachte man in bestehenden Gebäuden der Bezirkshauptorte unter, z.B. im Lenzburger Rathaus. Erst mit der Zeit wurden für sie eigene Gebäude errichtet, so in Lenzburg das alte Amtshaus an der Rathausgasse. Dieses entstand 1845 an der Stelle der baufälligen alten Metzg, des städtischen Schlachtlokales, mit Tuchlaube oder Tröckneraum im ersten Stock. Für diese musste man aber zuerst Ersatz schaffen. Dies war die Geburtsstunde des alten Gemeindesaales.

Schlacht- und Theaterlokal


Mit seiner heute zum Metzgplatz hin noch vorhandenen wohlproportionierten Fassade entstand hier 1843/44 als erste Bauetappe ein Schlachtlokal mit Fleischbänken (= Verkaufsraum für das Fleisch) hinter den westlichen zwei Torbogen. Hinter den mittleren beiden Bogen lagen Spritzenbehälter (= Feuerwehrlokale), und der östlichste Bogen erschloss die Nachtwächterstube. Darüber lag im ersten Stock die Tröcknestube, die der Liebhabertheatergesellschaft auch für ihre Proben und Aufführungen diente. Die hinter dem westlichsten und östlichsten Torbogen liegenden beiden schmalen Seitenflügel des Gebäudes ragten um zwei Fensterachsen weiter nach Süden als der Gebäudeteil dazwischen. Zwischen diesen Seitenflügeln befanden sich unter dem nach Süden hin abfallenden Dach und 7 Stufen tiefer die beiden Waschhäuser.

Theatergesellschaft um 1910 im Parterre des alten Gemeindesaals


Lenzburg hatte im 19. Jahrhundert ein reges Kulturleben. Bereits 1832 wurde der heute noch existierende Musikverein gegründet. Als Lokal für Konzerte und auch für Aufführungen fremder Theatergruppen usw. diente die grosse Ratsstube im Westteil des 2. Obergeschosses des Rathauses. Da diese für die Gemeindeversammlungen des wachsenden Städtchens zu klein wurde und auch wegen ihrer niedrigen Raumhöhe nicht befriedigte, erweiterte man 1863/64 das Gebäude am Metzgplatz zum Gemeindesaal. Die Waschhäuser, deren Betrieb von Anfang an unter Mängeln litt, wurden an den Waschhausgraben, westlich des KV-Schulhauses, verlegt. An ihrer Stelle und um zwei Bogenachsen weiter nach Süden reichend baute man zwischen die Seitenflügel im 1. Stock den Saal des alten Gemeindesaales ein und fügte nach Osten hin dem Gebäude ein Treppenhaus an. Kulturbeflissene Mitbürger haben aus privaten Mitteln 40% an die Kosten dieses Baus beigesteuert.
Fortan war dieser Gemeindesaal das Zentrum des kulturellen und geselligen Lebens des Städtchens. Unzählige Konzerte begeisterten die Zuhörer, und der gesellschaftliche Anlass damaliger Zeiten war jeweils der Cäcilienball des Musikvereins. Vor weit bedeutenderen Städten besass Lenzburg ab 1864 einen eigentlichen Konzertsaal (die alte Tonhalle in Zürich stammte von 1868, die heutige von 1893/97, das Konzertgebäude des Musikvereins in Wien von 1870, das Stadtcasino Basel von 1876, das Concertgebouw in Amsterdam von 1887). Die Kombination des Schlachthauses im Erdgeschoss mit dem Konzert- und Ballsaal im Obergeschoss hat einen Spassvogel zu folgendem Reim veranlasst: «Unten beben Schweine,
oben schweben Beine.»


Cäcilienball im alten Gemeindesaal, 1946



Neustart in Etappen


Mit dem Aufkommen von Radio, Schallplatten, Tonbändern usw. verlor das aktive Musizieren zunehmend an Bedeutung. Musste man früher selber Musik machen oder ein Konzert besuchen, um Musik zu hören, konnte man dies nun dank Radio und Grammophon bequem in der Stube tun. Der Niedergang des aktiven Musiklebens war zugleich auch der Niedergang des alten Gemeindesaales, dessen sanitäre und technische Einrichtungen auch nicht mehr die neuen Ansprüche erfüllten. Hinzu kam, dass das Hotel Krone einen grosszügigen neuen Saal erstellen liess, der am 29. Oktober 1953 eingeweiht wurde. Daher übrigens auch der Name „alter“ Gemeindesaal. Dieser fiel nun gewissermassen in einen Dornröschenschlaf und verlotterte zusehends.
Die Einwohnergemeindeversammlung vom 8. Juni 1964 hiess einhellig folgendes Projekt gut: Abbruch des Hauserhauses (= östlich an das Verwaltungsgebäude Metzgplatz anschliessend), des alten Gemeindesaals und der uralten Stadthäuser am südlichen Ende der Leuengasse; Neubau einer Verlängerung des Verwaltungsgebäudes Metzgplatz mit Büros, Militärunterkünften und Magazinen für die Städtischen Werke mit zwei unterirdischen Geschossen; der Neubau als Abschluss der Leuengasse hätte ähnlich ausgesehen wie das Gebäude am Eingang vom Freischarenplatz zur Kirchgasse mit der Kantonalbankfiliale. Gottlob hatte die Bundesversammlung am 18. März 1964 Konjunkturdämpfungsmassnahmen beschlossen. Diese verboten u.a. den Bau von Verwaltungsgebäuden bzw. erschwerten ihn für eine gewisse Zeit. Dank der so verordneten Denkpause ist man gescheiter geworden und hat die Militärunterkünfte 1969 mit der Mehrzweckhalle auf der Schützenmatte realisiert. Für die Städtischen Werke und das Stadtbauamt wurde nördlich des Bahndamms 1980/82 der neue Werkhof errichtet.
Beim legendären Aargauerfest, das 1978 in Lenzburg gefeiert wurde, spielte auch der alte Gemeindesaal eine wichtige Rolle. Man wurde sich des Werts des Gebäudes bewusst. Fortan setzten sich mehrere Initianten hartnäckig für eine Renovation ein, die schliesslich 1983/84 verwirklicht wurde. Dabei wurde auch die repräsentative und heute rare Deckenmalerei wieder entdeckt und restauriert. Der Saal erstrahlt wieder im alten Glanz und bildet den gediegenen Rahmen für schöne Feste, für Theater, musikalische Darbietungen, Vorträge und vieles andere mehr.
Titelbild: Blick vom Schlossberg auf den alten Gemeindesaal, 1938.