Zeitreise

Lenzburg – einst ein Eldorado der Verpackungsindustrie

In Lenzburg gab es einige Papier- und Kartonfabriken, welche aber alle, wie auch ihre Gebäude, weitgehend verschwunden sind.

Von Christoph Moser

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und bis um 1990 war Lenzburg ein wahres Eldorado der Karton-, Papier- und Verpackungsindustrie. Nicht weniger als 5 Betriebe stellten Karton und Verpackungen her. In seiner Blütezeit beschäftigte dieser Industriezweig über 300 Mitarbeiter. Als der Autor in den 1960er-Jahren noch die Schulbank drückte, brachte man Altpapier in die Kartonfabrik an der Seonerstrasse, im Wyl, wo es zu Karton verarbeitet wurde. Täglich verliessen mehrere Bahnwagen mit Ovomaltine-Büchsen, Waschmittelpackungen usw. das Werk der Zeiler Packungen AG an der Ringstrasse West (wo heute Artoz Papier und Eglin Elektro AG ihre Geschäfte betreiben). Da das Werk nicht direkt an die Gleisanlagen des Bahnhofs Lenzburg angeschlossen war, wurden die Bahnwagen auf einem speziell für diesen Zweck hergerichteten Tiefgangwagen auf der Strasse vom Bahnhof zum Gleisstück im Werk und wieder zurück zum Bahnhof transportiert.

Die Zeiler Packungen AG um 1950. Quelle: Alfred Willener-Schmid, Lenzburg als Industriestandort, Sonderdruck aus der Festschrift 25 Jahre Diskussionszirkel K.V. Lenzburg, Lenzburg 1950, Abbildung 32

Auch rund um den Betrieb der Langenbach AG an der Ecke Augustin Keller-Strasse/Zeughausstrasse herrschte reger Anlieferungs- und Versandverkehr. Etwas weniger voluminös war der Güterumschlag bei der Firma Müller & Leutwyler AG und bei der Häusler, Frey & Co. AG. Die erstgenannte stellte Papiersäcke, Flachbeutel, Faltschachteln, Pâtisserie-Teller und -Schachteln sowie Tortenschachteln her, die zweitgenannte vor allem Papiersäcke. Diese wurden damals noch in grossen Mengen im Detailhandel benötigt, da Lebensmittel und Kolonialwaren in zahlreichen kleineren Geschäften im Offenverkauf gehandelt wurden. Die heutigen Grossmärkte mit Selbstbedienung waren in den 1960er-Jahren noch wenig verbreitet.
Heute existiert in Lenzburg keiner dieser Betriebe mehr. Vier wurden stillgelegt, die Langenbach AG nach Schafisheim verlegt. Da diese Betriebe einen bedeutenden Teil der Lenzburger Industrie bildeten, beschäftigt sich diese Zeitreise mit ihnen. Die einzelnen Betriebe werden in der Reihenfolge ihrer Gründung dargestellt. Dabei erwiesen sich Deutsche als Pioniere beim Aufbau unserer Industrie: Nicht nur die Gründer der Hero Conservenfabrik kamen aus Deutschland, sondern auch die Gründer der J. Langenbach AG und der Kartonfabrik im Wyl. Der Gründer der Zeiler Verpackungen AG sodann war der Sohn und zugleich Stiefsohn der beiden Hero-Gründer.

Die J. Langenbach AG


J. Langenbach kam in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der badischen Papierwarenindustrie in Lahr als Kartonzuschneider nach Laupen. In der dortigen Kartonnagefabrik gewann er Einblick in die schweizerischen Absatzverhältnisse. Er machte sich selbständig und gründete in Lenzburg 1876 das Unternehmen Langenbach, das vor allem Verpackungen aus Karton und später Wellkarton herstellte. Die Fabrikation wurde in den Räumen des Gebäudes an der Ecke Industriestrasse/Färberweg aufgenommen, das heute der Heizungs- und Sanitärfirma Widmer AG dient. Bereits 1879 konnte der erste eigentliche Fabrikneubau an der Augustin Keller-Strasse errichtet werden. 1905 wurde in der Engelmatte (Gebiet, wo der A1-Viadukt das Aabachtal überspannt) eine Wellkartonfabrik errichtet und 1915 in den neu erstellten grossen Fabrikbau an der Augustin Keller-Strasse verlegt.

Die Gebäude der J. Langenbach AG um 1950. Quelle: Lenzburg als Industriestandort, Abbildung 35

Die Fabrik wurde in mehreren Etappen erweitert. Als der Raum für weitere Ausbauten fehlte, wurde der Betrieb 1993 nach Schafisheim (vis-à-vis der grossen Coop-Verteilzentrale) verlegt. Die Gebäude wurden anschliessend teilweise abgerissen, zum grössten Teil aber für den Coop-Supermarkt 2000 plus und weitere Geschäfte umgebaut.

Die Kartonfabrik Vollmar & Schatzmann im Wyl


wurde 1891 vom deutschen Buchbinder C.A. Scharpff gegründet. Die erste Betriebsstätte befand sich etwas weiter unten am Aabach, bei der damaligen Waffenfabrik Hämmerli. 1885 konnte Scharpff von einem Zweig der Familie Hünerwadel die Gebäude der oberen Bleiche im Wyl übernehmen. Charakteristisch für diese Bleiche war die sog. kalte Hänki, ein hölzernes Gebäude, in welchem die bearbeiteten Tücher zum Trocknen aufgehängt wurden. Es diente auch der Kartonfabrik zum Trocknen der Kartonplatten, bevor 1933 ein Trocknungsapparat eingerichtet wurde. Weil er baufällig war, ist dieser interessante Zeuge der Lenzburger Industriegeschichte leider 1992 abgerissen worden.

In der Bildmitte erkennt man den hölzernen Kalthängebau. Quelle: Lenzburger Neujahrsblätter 1992, Seite 80

Von C.A. Scharpff ging der Betrieb 1902 an seine beiden Schwiegersöhne Ernst von Niederhäusern und Hans Schatzmann über – die Eigentümer des 1911 gegründeten Sauerstoffwerks Lenzburg. Ab 1928 gehörten Kartonfabrik und Sauerstoffwerk Max Vollmar und Theodor Schatzmann. Unter den Schweizerischen Kartonfabriken war der Betrieb ein Winzling. Jährlich wurden ca. 1’200 Tonnen Altpapier zu 1’000 Tonnen Karton verarbeitet. Für das lokale Altpapier-Recycling war der Betrieb indes bedeutend. Er wurde 1993 stillgelegt, da die Anlagen veraltet waren. Das Areal wird seither vom Sauerstoffwerk Lenzburg – heute Messer Schweiz AG – genutzt. Die Gebäude der Kartonfabrik wurden 2013 abgerissen. Nur Bruchstücke des einstigen Wasserwerks am Ufer des Aabachs zeugen noch vom ehemaligen Betrieb.


Die abgerissenen Gebäude der Kartonfabrik Vollmar & Schatzmann um 1950. Quelle: Lenzburg als Industriestandort, Abbildung 30

Die Häusler, Frey & Co. AG


an der Ecke Bahnhofstrasse/Angelrainstrasse geht auf Wilhelm Häusler zurück, den kaufmännischen Leiter der Firma J. Langenbach, der 1894 eine eigene Papierwarenfirma gründete, in welche 1895 Heinrich Frey eintrat. Ab 1919 hiess die Firma Häusler, Frey & Co. AG. Mit dem Wandel im Lebensmittel- und Kolonialwarenhandel von den zahlreichen lokalen Detailgeschäften mit Offenverkauf zu den grossen Selbstbedienungs-Märkten von Migros, Coop usw. mit vorwiegend abgepackten Lebensmitteln ging die Nachfrage nach Papiersäcken, dem Hauptprodukt der Firma, drastisch zurück. Der Betrieb wurde stillgelegt, die Gebäude wurden 1989 abgebrochen. An ihrer Stelle entstanden das Geschäftshaus Bahnhofstrasse 15 und das Mehrfamilienhaus Angelrainstrasse 3.
Das abgebrochene Gebäude der Häusler, Frey & Co. AG um 1950. Quelle: Lenzburg als Industriestandort, Abbildung 31

Die Müller & Leutwyler AG


Gegründet wurde die Firma von Alfred Müller 1907 in Wohlen. Dieser war vorher als Vertreter in der Papierwarenfabrik Häusler, Frey & Co. AG tätig gewesen. 1910 wurde der Betrieb nach Lenzburg, Ecke Niederlenzer Kirchweg/ Breitfeldstrasse, verlegt und in mehreren Etappen ausgebaut. Ab 1935 führten Alfred Müller jun., Rudolf Thomann und Henry Leutwyler die Firma Alfred Müller & Cie. weiter. Später wurde die Firma, die vorwiegend Verpackungsmaterial für Bäckereien und Conditoreien herstellte, in Müller & Leutwyler AG umbenannt. 1987 Fusion mit der Firma PAWI, Papierwarenfabrik Winterthur. 1998 ersetzten neue Fabrikationsräume an der Ringstrasse Nord den bisherigen Standort, der an die Hero AG veräussert wurde. Heute gehören die Gebäude einer Pensionskasse. Das als «Gleis 1» benannte Gebäude beherbergt in seinen Mauern verschiedenste Dienstleistungsbetriebe. PAWI legte den Betrieb in ihrem Werk Lenzburg an der Ringstrasse Nord 2015 still.
Unten links im Bild sind die Gebäude der Müller & Leutwyler AG zu sehen, dahinter der grosse Fabrikkomplex der Hero Conservenfabrik, wo sich heute das neue Quartier im Lenz erstreckt. Quelle: H.A. Bosch, Chronik der Bezirke Lenzburg und Kulm, Zürich 1966, S. 32

Die Zeiler Packungen AG


wurde 1930 von Gustav Ferdinand Zeiler, dem Sohn des Hero-Mitbegründers Gustav Zeiler, gegründet. In einem Teil der Räume der Seifenfabrik Lenzburg (heute Parkplatz Seifi) stellte die damalige Firma Hirzel & Co. Produkte aus Graukarton und Weissblech her. 1937 wurde die Firma in Zeiler Packungen AG umbenannt und bezog an der Ringstrasse West moderne Fabrikationsgebäude, die im Laufe der Jahrzehnte mehrmals erweitert wurden. Zeiler war ein eigentlicher Tüftler und hatte neuartige Verpackungen aus Verbundmaterialien entwickelt, z.B. mit einer Metall-Folie beschichtete Kartonbüchsen für Ovomaltine oder Heliomalt, Waschmittel-Behälter oder Joghurt-Becher. 1991 wurde der Betrieb an die Sandherr Packungen aus Diepoldsau SG veräussert. Diese legte den Betrieb 1992 still bzw. zügelte die Fabrikation nach Diepoldsau. Offensichtlich hatte der Betrieb mit der jüngsten technologischen Entwicklung nicht mehr Schritt gehalten und war 1990 immer noch mit viel Handarbeit verbunden (siehe Titelbild, im Inneren der Fabrik).

Zurzeit werden die Gebäude von der Handelsfirma Artoz Papier und der Elektro Eglin AG sowie weiteren Unternehmungen genutzt. Die Parzelle ist indes an Investoren veräussert worden, die auf dem Areal, das auch grössere unbebaute Flächen umfasst, eine der letzten in Lenzburg noch möglichen Gross-Überbauungen realisieren möchten.

Die Villen der Fabrikbesitzer stehen noch


Wenn auch heute alle Verpackungsfirmen in Lenzburg verschwunden sind, so stehen doch die Villen der einstigen Fabrikeigentümer noch. Im Park hinter dem Perron der Seetalbahn steht die Villa Langenbach. An der Gartenstrasse 9 findet man die ehemalige Villa der Familie Vollmar und etwas weiter, an der Nr. 17 den seinerzeitigen Wohnsitz von Heinrich Frey-Zschokke. Die Villa des zweiten Partners der Häusler, Frey & Co. AG, Wilhelm Häusler, steht an der Angelrainstrasse 6, und unweit davon, an der Angelrainstrasse 2, wohnte Gustav Ferdinand Zeiler. Diese Liegenschaft ist für seinen Stiefvater, den Hero-Mitbegründer Gustav Henckell, 1900 erbaut worden. Schliesslich erhebt sich, umgeben von dem vom Enkel des Erbauers sorgfältig gepflegten Garten, an der Bahnhofstrasse 28 die für Alfred Müller-Rogenmoser errichtete Villa Müller.
Titelbild: Wicklerei bei der Zeiler Packungen AG um 1947. Quelle: H.A. Bosch, Heimatgeschichte und Wirtschaft der Bezirke Kulm und Lenzburg, Zürich 1947, Teil Industrie, Handel und Gewerbe, S. 71.
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