Zeitreise

Vom Ziegelacker bzw. Lindenplatz

Wo fröhliche Kinder über den Gebeinen unserer Vorfahren spielen.

Von Christoph Moser

Mit Genugtuung vernimmt der Autor auf dem Lindenplatz im Ziegelacker freudiges Kindergeschrei, das ihm vom ewigen Kreislauf des Lebens kündet. Die wenigsten der zahlreichen Kinder mit ihren Eltern oder Grosseltern, die sich auf diesem Platz an den Spielgeräten und auf den Rasenflächen tummeln, sind sich bewusst, dass unter ihnen die Gebeine unserer Vorfahren ruhen. Hier wurden nämlich von 1669 bis 1867 unsere Toten bestattet. Näheres dazu weiter unten.

Ziegelacker oder Lindenplatz?


Vorerst beschäftigt uns nämlich die Frage, ob das Gebiet bzw. die Fläche des Spielplatzes nun den Namen «Lindenplatz» oder «Ziegelacker» trägt und woher diese beiden Namen rühren.


Das Gebiet Ziegelacker/Lindenplatz gemäss Auszug aus dem Katasterplan. Rechts oben, grün markiert, die Fläche des Spielplatzes. In der Mitte, das kleine Dreieck mit der Linde (schwarzer Kreis). Links unten, schwarz umbandet, das Areal der ehemaligen Ziegelhütte.
Ziegelacker heisst das Gebiet zwischen der Burghaldenstrasse im Süden, der Aavorstadt im Westen und dem Grabenweg im Norden. Es hat seinen Namen von der Ziegelei, die hier vom 15. bis ins 19. Jahrhundert betrieben wurde. Der Name «Ziegelacher» ist bereits 1430 urkundlich erwähnt.
Der heutige Spielplatz wird zwar hin und wieder unter dem Namen «Ziegelacker» erwähnt, meist ist in den Chroniken aber die Rede vom «Lindenplatz». Diesen Namen hat er von der grossen Linde erhalten, die ungefähr in der Mitte des Gebiets «Ziegelacker» stand. Sie musste im Dezember 1947 gefällt werden. An ihrer Stelle wurde damals eine neue Linde gepflanzt, die seither zu einem stattlichen Baum herangewachsen ist.

Die Namensgeberin des Lindenplatzes, die 1947 gefällte Linde; rechts erkennt man das an den Kindergarten Lindenplatz angebaute Wohnhaus.
 Quelle: Fotoband Liebes altes Lenzburg, 1986, Seite 114.

Übrigens: Es gibt in Lenzburg noch einen zweiten Lindenplatz: Den Platz in der Mitte der idyllischen Wohnüberbauung aus den Jahren 1908 bis 1912 im Wolfsacker-Quartier, nördlich des Bahnhofes. Seine Mitte ziert ebenfalls eine Linde.

Der Kindergarten Lindenplatz


Dieser und seine langjährige Kindergärtnerin Leni Seiler (1906 bis 2001) waren zahlreichen Lenzburger Kindern ein Begriff. Leni Seiler betreute die Jahrgänge ab ca. 1920 bis ca. 1965. Den Bau dieses Kindergartens beantragte der Stadtrat der Gemeindeversammlung mit Bericht vom 10. August 1918, da der bisherige Standort, nämlich das Hünerwadelhaus (damals Bezirksschulhaus und KV-Schulhaus) für die Kindergartenschüler nicht mehr geeignet war.

Zeichnung des Kindergartens Lindenplatz (Ansicht Nordseite) in der Vorlage an die Gemeindeversammlung; rechts sieht man die mächtige alte Linde auf dem Lindenplatz; daneben folgt das Wohnhaus und, daran angebaut, mit Quergiebel, der Kindergarten.
Quelle: Bericht und Antrag an die Einwohnergemeinde Lenzburg, Stadtarchiv Lenzburg, III DB.10, Berichte und Anträge an die Gemeindeversammlung

Der Kindergarten weicht einer Wohnüberbauung


Mit der Zeit befriedigten die Räume des Kindergartens nicht mehr. Vor allem mehrten sich Klagen über einen unangenehmen Geruch, der sich nicht beseitigen liess. Deshalb wurde für den Kindergarten Lindenplatz in der Widmi, am Standort der ursprünglichen Bauamts-Scheune (bei der Dampf-Walze) ein neuer Doppelkindergarten errichtet und im Januar 2005 eingeweiht. Dieser ersetzte zugleich auch den Kindergarten Burghalde im Gebäude der ehemaligen Kinderkrippe Burghalde (vis-à-vis des Burghaldenhauses). 2009 wurden der Kindergarten Lindenplatz und das daran angebaute, arg verlotterte Wohnhaus abgebrochen. Sie wichen einer modernen Wohnüberbauung, die in den Jahren 2010 bis 2012 nach einem mehrere Jahre dauernden langwierigen Baubewilligungsverfahren entstand, bei dem alle Instanzen bis zum Bundesgericht angerufen wurden.

Aus Altem ist Neues entstanden. Etwas ist aber geblieben: Auch im Neubau haben die Jüngsten eine Bleibe gefunden. Denn im Parterre wird der Kinderhort «Drachenäscht» betrieben.
Der Spielplatz auf dem ehemaligen Friedhof Lenzburg gehörte im frühen Mittelalter wie alle Gemeinden der Umgebung zur Mutterkirche auf dem Staufberg. In der Stadt befand sich nur eine (Filial-) Kapelle. Erst 1514 erhielt Lenzburg eine selbständige Kirche und damit auch einen eigenen Friedhof. Vorher waren die Lenzburger auf dem Staufberg begraben worden. Als Friedhof diente die zwischen der Stadtkirche und der Stadtmauer gelegene Fläche auf der Nordseite der Stadtkirche. Dieser kleine Friedhof genügte im späten 17. Jahrhundert nicht mehr. Daher bestimmte der Rat 1668 das Areal des heutigen Spielplatzes am Graben als neuen Friedhof. Dieser wurde durch Mauern eingefriedet, die eine entlang dem Grabenweg, die andere gegen den Ziegelacker. Die Mauer am Grabenweg ist in ihrem unteren Teil bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben, auch wenn die Mauerkrone und das damals darauf errichtete Dach verschwunden sind.
Auch dieser Friedhof «erschöpfte» sich mit der Zeit und erlaubte keine angemessene Grabesruhe-Frist mehr. Deshalb wurde er durch den Friedhof «Rosengarten» an der Wylgasse abgelöst, auf dem am 5. September 1867 die erste Beerdigung stattfand.

Verbliebene Zeugen des Friedhofs


Zwei Zeugen erinnern noch an diesen Friedhof: Zum einen ist es die Grabplatte des hier beigesetzten Christian Lippe, der in seinem Institut auf Schloss Lenzburg vielen jungen Leuten aus ganz Europa eine gute Erziehung und Ausbildung angedeihen liess und mit seinem Institut und dessen Lehrern eine positive Ausstrahlung auf das Städtchen hatte. Sie befindet sich am östlichen Ende der Mauer gegen den Grabenweg.


Grabtafel von Christian Lippe, Erzieher auf Schloss Lenzburg
Quelle: Lenzburger Neujahrsblätter 1933, Seite 70

Zum anderen ist es die mächtige Eiche im südöstlichen Teil des Platzes. Sie wurde vom legendären Forstmeister Walo von Greyerz als kleines Bäumchen auf das Grab seiner 1857 im Alter von 11 Jahren verstorbenen Tochter Adolphine gepflanzt. Heute spendet der stolze, über 160 Jahre alte Baum den Besuchern des Platzes grosszügigen Schatten.
Dem Bau der Seetalbahnstrecke Lenzburg Spitzkehre-Wildegg mit dem Stadtbahnhof kam der damalige Turnplatz in den Marktmatten in die Quere. Deshalb diente das ehemalige Friedhofareal des Lindenplatzes von 1896 bis zum Bau der Angelrainturnhalle 1908 als Turnplatz.
Das heutige Gesicht des Spielplatzes ist das Ergebnis mehrerer Umgestaltungen und Ergänzungen in den letzten Jahrzehnten. Dabei gab es auch spektakuläre Erscheinungen: 1955 liessen militärbegeisterte Mitbürger (u.a. Walter Bertschi-Röschli und Hans Haller) einen ausgedienten Militärflieger des Typs «Morane» auf dem Platz aufstellen. Den Kindern sollte damit ein «Robinson-Spielplatz» geboten werden. Später erhielt der Platz friedlichere und für die kleineren Kinder besser geeignete Spielgeräte. Der Platz lädt aber auch Erwachsene zum Verweilen ein und ist, zusammen mit den Grabengärten, eine wohltuende Grünfläche im Herzen des Städtchens. Er dient zudem am Jugendfestvorabend und bei verschiedenen weiteren Anlässen als «Bühne im Freien».

Fortsetzung folgt … Mit der Ziegelei, die dem Gebiet den Namen gegeben hat, und die später bei der Strafanstalt (Ziegeleiweg) eine Nachfolgerin fand, werden wir uns in der nächsten Zeitreise befassen.
Titelbild: Das abgebrochene Wohnhaus (links) mit dem Kindergarten (Südseite), Aufnahme von 1976
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Quelle: Fotosammlung Stadtbauamt Lenzburg