Zeitreise

Der Niederlenzer Kirchweg – Zeuge der regionalen Kirchengeschichte

Sicher haben Sie sich auch schon gefragt, was auf Lenzburger Boden der Name Niederlenzer Kirchweg bedeuten soll. Die Antwort finden wir in der Geschichte, denn der Niederlenzer Kirchweg weist auf etwas hin, das viele Jahrhunderte Bestand hatte.

Von Christoph Moser

Der Weg beginnt an der Grenze zwischen Niederlenz und Lenzburg, unmittelbar nördlich der Autobahn A1 und führt bis zur Grenze zu Staufen bei der Kreuzung Augustin Keller-Strasse/Aarauerstrasse. Ursprünglich hiess er bis zur erwähnten Kreuzung Niederlenzer Kirchweg. Erst 1915 erhielt der südliche Abschnitt, von der Bahnhofstrasse bis zur Aarauerstrasse, den Namen Augustin Keller-Strasse. Er erinnert an den Seminardirektor, Regierungsrat, National- und Ständerat Augustin Keller, 1805-1883.
Mit der Augustin Keller-Strasse vergangener Zeiten und mit ihrem Namensgeber werden wir uns in der nächsten Zeitreise befassen.
Ausschnitt aus der Siegfriedkarte von 1880. Der Niederlenzer Kirchweg verläuft vom oberen Bildrand, links der Mitte, geradeaus zur Bahnlinie, dann schräg nach links bis zur Kreuzung mit der Aarauerstrasse und von dort auf Staufner Boden wieder geradeaus zum unteren Bildrand. Quelle: Lenzburger Neujahrsblätter 2017, S. 78

Die geschichtliche Bedeutung des Namens


Auf dem Staufberg wurde schon in frühchristlicher Zeit eine Kirche errichtet, zu der Schafisheim, Staufen, Lenzburg, Niederlenz, Möriken, Othmarsingen, Hendschiken, Dottikon und Ammerswil gehörten. Vermutlich bereits im 9./10. Jahrhundert wurde eine weitere Kirche in Ammerswil errichtet, der Dottikon und der südliche Teil Othmarsingens zugeordnet wurden. Für die übrigen Gemeinden war bis zum 16. Jahrhundert die Kirche auf dem Staufberg das Gotteshaus. Die Staufbergkirche gehörte damals dem von den Habsburgern gegründeten Kloster Königsfelden und lag im Bistum Konstanz. Lenzburg hatte zwar schon seit der Gründung der Marktsiedlung im 13. Jahrhundert eine Kapelle. Diese war aber nur eine «Filiale» der Kirche auf dem Staufberg. Lenzburg bemühte sich seit Beginn des 16. Jahrhunderts, eine eigene, vollwertige Pfarrkirche zu erhalten. Erst mit Urkunde vom 2. Oktober 1514 bestätigte der Bischof von Konstanz den von Bern, dem Kloster Königsfelden, dem Leutpriester auf dem Staufberg und der Stadt Lenzburg abgeschlossenen Vertrag, indem er die Kapelle in Lenzburg offiziell zur Pfarrkirche erhob und sie der Mutterkirche Staufberg inkorporierte. Erst 1565 erhielt Lenzburg eine eigene Kirchgemeinde, der sich auch Hendschiken und Othmarsingen anschlossen. 1528 war gestützt auf ein von Bern erlassenes Dekret auch Lenzburg zum reformierten Glauben übergetreten. Im Zuge der Reformation hatte sich auch die Kirche von Möriken vom Staufberg losgelöst.
Schafisheim und Niederlenz gehörten weiterhin zur Kirche Staufberg. Die Niederlenzer benützten bei ihrem Kirchgang auf den Staufberg eben den Weg, der heute die offizielle Strassenbezeichnung Niederlenzer Kirchweg bzw. Augustin Keller-Strasse trägt. Der Strassenzug heisst übrigens bezeichnenderweise auf Niederlenzer Boden Staufbergstrasse. Erst 1949 konnte Niederlenz eine eigene Kirche einweihen. 40 Jahre später, auf den 1. Januar 1990, löste sich Niederlenz aus der Kirchgemeinde Staufberg und erhielt eine eigene Kirchgemeinde.

Die Kirche Niederlenz nach ihrer Fertigstellung im Jahre 1949
Quelle: 725 Jahre Niederlenz, Das Buch zum Jubiläumsjahr, 2016

Einst übers freie Feld, heute mitten in der Siedlung


Wie man in der Siegfriedkarte von 1880 erkennen kann, lag der Weg, den die Niederlenzer während Jahrhunderten bei ihrem Kirchgang auf den Staufberg und zurück in ihr Dorf beschritten, im freien Feld. Das hat sich inzwischen gründlich geändert. Von Niederlenz bis nach Staufen liegt dieser Weg heute im überbauten Siedlungsgebiet.
Unmittelbar nördlich des Bahndammes entstanden ab 1886 die ersten Bauten der von Gustav Henckell und Gustav Zeiler gegründeten Konservenfabrik. Diese nahm einen raschen Aufschwung. Schon 1912 lag auf der Ostseite der für damalige Verhältnisse riesige Fabrikbau der Hero, und auf der Westseite dominierte das markante Bürogebäude des Herokonzerns den Niederlenzer Kirchweg.
Die Fabrikanlagen der Hero, aufgenommen ca. 1912 von der Bahnlinie her. Zwischen den grossen Fabrikgebäuden rechts und dem markanten Bürogebäude links verläuft der Niederlenzer Kirchweg. Quelle: Hero – seit 1886 in aller Munde, Verlag hier + jetzt, Baden, 2011

Nördlich des Bahnhofs und westlich des Niederlenzer Kirchwegs entstand ab 1901 im Wolfsacker eines der ersten Aussenquartiere der Stadt. Ebenso folgten nach 1900 die Häuser am südlichen Teil des Niederlenzer Kirchweges, der heutigen Augustin Keller-Strasse.
Am längsten hielt sich die freie Fläche nördlich der Sägestrasse: Während vieler Jahrzehnte säumten den Weg hier sowohl auf der West- wie auf der Ostseite bis auf Niederlenzer Boden die riesigen Plantagen der Hero. Was hier wuchs, wurde zu Konserven verarbeitet.
Plantage der Hero mit Blick Richtung Niederlenz; im Hintergrund erkennt man Häuser in Niederlenz und den Chestenberg
Quelle: Alfred Willener, Lenzburg als Industriestandort, Lenzburg 1950

Eine erste markante Veränderung brachte der Bau der Autobahn A1, die 1966 eröffnet wurde. Sie führt mitten durch die Plantage. Diese hatte ohnehin im Laufe der Zeit an Bedeutung verloren. Früchte und Gemüse für die stark gesteigerte Produktion wurden immer mehr von Landwirten und auf dem freien Markt beschafft. Um 1990 entstand im ehemaligen Plantagen-Areal der neue Betrieb der Fleischwarenfabrik Traitafina AG. Seither ist die ehemalige Plantage weitgehend mit Logistik- und Gewerbebauten überbaut worden. Der neuste Bau ist das Turnzentrum Aargau des Aargauer Turnverbandes.

Das Tor zum Neubauquartier «Im Lenz»


Bis zum Auszug der Hero ins Hornerfeld diente der Niederlenzer Kirchweg der Zu- und Wegfahrt ins Fabrikareal. Dieses war aber umzäunt und der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Ausserhalb der Betriebszeiten war es mit Toren abgeschlossen. Von 2012 bis 2017 entstand an Stelle der grösstenteils abgerissenen Fabrikbauten der Hero das Neubau-Quartier «Im Lenz» mit rund 500 Wohnungen sowie Gewerbe- und Dienstleistungsflächen. Der Niederlenzer Kirchweg bildet nun den Hauptzugang zu diesem neuen Stadtviertel, in welchem die Autos weitgehend unterirdisch bleiben. Das Bild von ca. 1912 zeigt einen schmalen, zwischen Gebäuden eingezwängten Weg. Heute präsentiert sich der Niederlenzer Kirchweg in diesem Bereich als grosszügiger, mit Bäumen bepflanzter Strassenraum zwischen repräsentativen Bauten.

Stau an der Barriere


Zum Schluss noch eine historische Reminiszenz. Heute bildet die Stützmauer der Eisenbahnlinie das südliche Ende des Niederlenzer Kirchweges. Seit 1971 verbindet ihn eine Fussgänger- und Radfahrerunterführung unter den Bahngeleisen mit der Bahnhofstrasse. Vorher befand sich hier der Niveauübergang «Hero» beim Stellwerk 2, das die Weichen und Signale im östlichen Teil des Bahnhofes sowie die Barriere bediente. Er war die einzige Verbindung zwischen den Quartieren südlich und nördlich der Bahn (abgesehen vom Übergang Lenzhardstrasse, dessen Barrieren praktisch dauernd geschlossen waren, vgl. dazu die Zeitreise vom März 2021 «Aus eins mach sechs – die Lenzhardstrasse und ihre «Nachfahren»). Zahlreiche der rund 1000 Mitarbeiter der Hero und der Wisa Gloria stammten aus Staufen. Ihr bevorzugtes Verkehrsmittel war damals das Velo. Zu ihnen gesellten sich die Bezirksschüler aus Niederlenz. Vor Arbeitsbeginn am Morgen und beim Arbeitsschluss am Abend, vor allem aber vor und nach der Mittagspause stauten sich die Velofahrer in grossen Scharen, wenn die Bahnschranken geschlossen waren. Für die Motorfahrzeuge stellt seit dem November 1970 die Unterführung zwischen Ringstrasse West und Nord die Verbindung zum Gebiet nördlich des Bahnhofs her. Der Niveauübergang bei der Hero wurde im Zuge des Bahnhofausbaus im Dezember 1971 geschlossen.

Der Niveauübergang «Hero» beim ehemaligen Stellwerk 2; es wurde am 5. Dezember 1971 stillgelegt und der Übergang geschlossen. Quelle: Broschüre Bahnhof Lenzburg

 
Titelbild: Strassenschild beim Kreisel Sägestrasse/Niederlenzer Kirchweg/ Wolfsackerstrasse