Zeitreise

Der Stadtbahnhof

Unsere Trilogie über die ehemalige Seetalbahn-Strecke Lenzburg Spitzkehre bis Wildegg schliessen wir mit Erinnerungen an den Lenzburger Stadtbahnhof ab.

Von Christoph Moser

Wer erst nach 2005 das Bébé-Alter überschritten hat oder in Lenzburg zugezogen ist, hat keine Erinnerung an den Stadtbahnhof mehr, an dessen Stelle heute ein Teil der Kernumfahrung verläuft und sich das «Schneeflöcklihaus» erhebt. Doch von 1895 bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts dominierten die Anlagen des Bahnhofs «Lenzburg Stadt» den Raum zwischen dem Bahndamm im Norden, dem Malagarain im Osten und der Bahnhofstrasse im Südwesten. 2003 wurde das Bahnhofgebäude abgebrochen; der Güterschuppen und die Abstellgleise verschwanden schon etwas früher. Im Frühjahr 2005 wurde das letzte, bis dahin noch als Zufahrt zum UFA-Mischfutterwerk dienende Gleis entfernt. Unmittelbar anschliessend wurde die Überdeckung «Erlengut» der Kernumfahrung erstellt und im November 2005 dem Betrieb übergeben.

Malagarain und Grünanlage


Vom Freiämterplatz her führte der Malagarain am Stadtbahnhof vorbei und mündete kurz vor der Barriere der Seetalbahn in die Bahnhofstrasse ein. Dessen Bereich vor dem Bahnhofsgebäude nannte man auch Seetalplatz. Zwischen dem heutigen und dem ehemaligen Gebäude der Hypothekarbank Lenzburg (dem Lenzhof) und dem Seetalplatz lag eine dreieckförmige Grünanlage. Deren Stelle nehmen heute die runde Zufahrtsrampe zum Mülimärt und der Platz vor dem «Schneeflöcklihaus» ein. Die Südostecke dieser Grünanlage dominierte vis-à-vis des Lenzhofs ein grosser Thujabaum, und davor hatte die Bronze-Plastik «Kniende» des Lenzburger Bildhauers Arnold Hünerwadel (1877-1945) ihren prominenten Platz. Heute fristet diese Statue ihr Dasein in der Grünanlage des Stadtgrabens, neben der Stadtbibliothek. Oft hatten die in der Nacht vor dem Chlausmarkt ihren Schabernack treibenden Chlauschlöpfer Erbarmen mit der unverhüllten Dame und kleideten sie in ein Leintuch, damit sie nicht fror.

Bild: «Kniende» von Arnold Hünerwadel (im Hintergrund der Thujabaum) Quelle: Lenzburger Künstler, Heft I, Arnold Hünerwadel, 1972 von der Ortsbürgerkommission Lenzburg herausgegeben.

Was war vor der Kreuzung Bahnhofstrasse/Kernumfahrung an deren Stelle?


Hier sicherte eine Barriere die Durchfahrt der Seetalbahnzüge. Links vom Trassee Richtung Spitzkehre standen zwei Getreidesilos der Mühle Remund AG. Sie waren mit einem längs der Bachstrasse führenden Gleis erschlossen. Vom parallel zum Streckengleis führenden Anschlussgleis gelangten die Wagen über eine Drehscheibe zum Gleis längs der Mühlegebäude. Diese Silos und die Drehscheibe wurden 1986 abgebrochen.

Bild: Silos der Mühle Remund AG Quelle: Fotosammlung Stadtbauamt Lenzburg

Wer als Automobilist heute vom Freiämterplatz herkommend vor einem der roten Signale an der Kreuzung anhalten muss, darf sich vorkommen wie der Lokomotivführer der Seetalbahn: Vor der Brücke über den Aabach stand das Signal, das die Weiterfahrt Richtung Spitzkehre erlaubte und auch vom dortigen Signalwärter bedient wurde. Während vom Stadtbahnhof gar nichts mehr übriggeblieben ist, stehen die Gebäude auf seiner Westseite immer noch.

So präsentierte sich der Stadtbahnhof 1908


Bild aus Liebes altes Lenzburg, S. 58

Der Blick auf der Fotografie geht zur Barriere der Bahnhofstrasse. Wir können die drei Gleise des Bahnhofs ausmachen. Links erkennen wir das Bahnhofgebäude. Rechts steht das dreigeschossige Gebäude der Glas- und Porzellanhandlung Willener, Rupp & Co. Es säumt, nur leicht verändert, als Niederlassung von Villeroy & Boch, noch heute den Rand der Kernumfahrung. Das Gebäude der Kolonialwarenhandlung Bertschinger & Co., ganz rechts im Bild, ist am 2. Dezember 1958 beim wohl grössten Brand zerstört worden, den Lenzburg im 20. Jahrhundert erlebte: Im Gebäude waren grosse Mengen Zucker eingelagert, und als diese sich bei der grossen Hitze des Brandes entzündeten, loderten haushohe Flammen aus dem Gebäude. Sie konnten mit den damaligen Löschmitteln fast nicht gelöscht werden. Der Brandschutt mottete noch wochenlang. Selbst bei seinem anschliessenden Wegführen qualmten die Ladungen auf den Lastwagen noch. Dieser Grossbrand kostete auch einem Feuerwehrmann das Leben.

Das Bahnhofbuffet


Bild Liebes altes Lenzburg, S. 57

Was dem für den Eisenbahnverkehr in Lenzburg viel bedeutenderen Bahnhof Lenzburg fehlte, war im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts im Bahnhof Lenzburg Stadt vorhanden: Ein Bahnhofbuffet. Allerdings muss sein Umsatz bescheiden gewesen sein, denn Umsteigeverkehr mit wartenden Reisenden gab es in Lenzburg Stadt ja keinen. So trägt denn auch die Hälfte der auf der Foto abgebildeten vier Gäste Eisenbahneruniformen.

Der Bahnhofkiosk


Wesentlich besser liefen später die Geschäfte mit dem Bahnhofkiosk, der nicht nur von den Zugreisenden benützt wurde, sondern vor allem auch von den auf dem Malagarain zirkulierenden Fahrzeuglenkern. Der Kiosk wurde denn auch nach der Einstellung des Personenverkehrs auf der Linie Wildegg-Lenzburg in einem neuen Container untergebracht: War seine Verkaufsfsfront vorher auf der Seite des Perrons, zeigte sie nun auf die Strassenseite.

Die Bedeutung des Stadtbahnhofs


im Lenzburger Personenverkehr war eher gering und nahm mit der zunehmenden Motorisierung der Bevölkerung ab. Die Eröffnung der Heitersberglinie 1975 und die Einführung des Taktfahrplans 1982 liessen die Frequenzen endgültig einbrechen. Deshalb wurde der Personenverkehr Wildegg-Lenzburg im Juni 1984 eingestellt. Auch wenn der Stadtbahnhof eine untergeordnete Bedeutung hatte, hatte Lenzburg immerhin zwei Bahnhöfe. Diese Tatsache hat ihren Niederschlag auch in einem Witz gefunden: Ein Schweizer will am Weissrussischen Bahnhof in Moskau ein Billett zur Rückfahrt nach Lenzburg lösen. Fragt ihn der Schalterbeamte: Nach Lenzburg oder nach Lenzburg Stadt?
Allerdings gab es in den 1950er-Jahren Situationen, die man sich heute nicht mehr vorstellen kann. An einem schönen Sonntagnachmittag zog es viele Lenzburger nach Wildegg zum Spaziergang entlang der Aare. Die Schar der im Stadtbahnhof einsteigenden Reisenden war so gross, dass sie bis auf die Trittbretter der offenen Plattformen der Seetalbahnwagen standen, also beinahe indische Verhältnisse mit völlig überfüllten Zügen. Damals gab es eben noch bedeutend weniger Autos als heute. Neu zugelassene Autos erhielten Nummern zwischen 25’000 und 30’000.
Bild mit Legende: Das «letzte Stündlein» des Silos; gut zu sehen ist das im Text weiter oben erwähnte Ausfahrsignal Quelle: Fotosammlung Stadtbauamt

Dies führt uns zurück in die Gegenwart: Wo einst gemächlicher Betrieb im Stadtbahnhof herrschte, warten heute in den Verkehrsspitzenzeiten nicht mehr die Lokomotivführer, sondern die ungeduldigen Autolenker im hektischen Verkehr auf der Kernumfahrung auf das Grün am Signal.
Stadtbahnhof/Bahnhofstrasse. Aus dem Band «Gruss aus Lenzburg», herausgegeben von der Ortsbürgerkommission und der Stiftung Museum Burghalde, Lenzburg 1996.