Zeitreise

Die Spitzkehre

In der letzten Zeitreise verfolgten wir die Spuren der Seetalbahn vom Bahndamm Richtung Niederlenz. Dieses Mal wollen wir uns mit einer in der Schweiz einzigartigen, 2005 endgültig verschwundenen Erscheinung befassen: Mit der Spitzkehre.

Von Christoph Moser

Sie ist der Namensgeber für den vom Turnerweg in südlicher Richtung entlang dem Seetalbahn-Gleis zum Bleicherain führenden Fussweg.

Spitzkehre, 1975; das Gleis rechts führt Richtung Lenzburg-Stadt; hinter den Bäumen bei den Gleisen wurde der Spielplatz «Spitzchehri» eingerichtet. Quelle: Fotosammlung Nussbaum des Museums Burghalde

Wie die Spitzkehre funktionierte


Die im Oktober 1883 eröffnete Seetalbahn führte in den ersten 12 Jahren von Luzern bis in den Bahnhof Lenzburg. Am 1. Oktober 1895 ging die Teilstrecke von Lenzburg über Lenzburg-Stadt nach Wildegg in Betrieb. Dies war die Geburtsstunde der Spitzkehre beim Niveauübergang Bleicherain/Aarauerstrasse. Denn aus topographischen Gründen musste die Linie nach Wildegg bereits hier abzweigen. Wie funktionierte sie? Ein von Luzern nach Wildegg verkehrender «Seetaler» – so nannte man diese Züge – fuhr zunächst in den Bahnhof Lenzburg. Dort lag der Bahnhofteil für den «Seetaler» rund 100 Meter westlich des heutigen «Seetaler»-Perrons. Dann fuhr der Zug in langsamer Fahrt die gut 500 Meter lange Strecke bis zur Spitzkehre rückwärts, bis die ganze Komposition die unmittelbar beim Übergang Bleicherain/Aarauerstrasse eingebaute Weiche freigegeben hatte. Da der Lokführer bei dieser Rückwärtsfahrt keine Sicht auf die befahrene Strecke hatte, stand auf der hintersten, offenen Einstiegsplattform der damaligen Seetalbahnwagen der Kondukteur (das gabs damals noch bei allen Personenzügen). Seine Aufgabe war es, den Zug bei Gefahr über die Notbremse anhalten zu können. Auf der Südseite des Bahnübergangs stand ein Bahnwärterhäuschen. Der darin tätige Signalwärter bediente über Drahtzüge die Barriere, die Weiche und die Signale, welche die Anlage sicherten. Der Volksmund nannte die Signalwärter der Spitzkehre auch «Spitzbuebe». Hatte nun der Signalwärter die Weiche in Richtung Lenzburg-Stadt umgelegt, konnte der Zug seine Fahrt vorwärts Richtung Wildegg wieder aufnehmen. In umgekehrter Reihenfolge befuhren die Züge Wildegg-Luzern die Anlage: Vom Bahnhof Lenzburg-Stadt vorwärts zur Spitzkehre und dann rückwärts in den Bahnhof Lenzburg.
1974 erhielt die Dienststation «Spitzkehre» einen elektrischen Weichenantrieb und Lichtsignale. Die Zeit der Drahtzüge, die zuweilen bei Minustemperaturen nach Niederschlägen einfroren und zu Betriebsstörungen führten, war damit vorbei. Im September 1997 wurde die Dienststation automatisiert und vom Bahnhof Lenzburg aus fernbedient. Das Bahnwärterhäuschen wurde abgebrochen; die Zeit der «Spitzbueben» war abgelaufen. Bereits im Juni 1984 hatten die letzten Personenzüge von und nach Wildegg die Anlage befahren. Danach verkehrten nur noch zwei bis vier Rangierfahrten pro Tag mit Wagen zum bzw. vom Mischfutterwerk der UFA über das Richtung Lenzburg-Stadt führende Gleis. Im Frühjahr 2005 hörten auch diese Fahrten auf. Danach wurde das Gleis abgebaut. Das Areal der aufgehobenen Bahnanlagen ging an die Stadt Lenzburg.

Die Barriere an der Angelrainstrasse


Bis zum Abbruch der Bahnanlagen sicherten Barrieren an der Bahnhofstrasse und an der Angelrainstrasse die Strecke. Den aus den nördlichen Quartieren Lenzburgs und von Möriken-Wildegg, Niederlenz und Othmarsingen kommenden Bezirksschülern leistete die Barriere an der Angelrainstrasse gute Dienste. Wenn sie zu spät kamen, machten sie geltend, die Barriere sei geschlossen gewesen. (Von 1930 bis zu seiner Renovation vor wenigen Jahren diente das Schulhaus «Bleicherain» als Bezirksschulhaus; die Bezirksschule Möriken-Wildegg wurde erst um 1970 eröffnet.)

Der Spielplatz «Spitzchehri», 1980. Quelle: Fotosammlung Nussbaum

Der Spielplatz «Spitzchehri»


Schon 1973 wurde im Einwohnerrat mit einer Motion angeregt, es sei ein Abenteuerspielplatz zu schaffen. In der Folge wurde das Thema von den Behörden längere Zeit gewälzt. 1975 wurde der Elternverein Lenzburg gegründet. Im Dezember 1976 wurde vereinbart, dass die Gemeinde das ihr gehörende Areal zwischen dem Turnerweg und den Gleisen bei der Spitzkehre zur Verfügung stellt und der Elternverein dort einen Spielplatz einrichtet und betreibt. Nach der Erledigung eines Einspracheverfahrens mit Nachbarn wegen des geplanten Baus einer Baracke konnte der Spielplatz 1980 endlich eröffnet werden. Da 2004/05 auf diesem Areal der Neubau der Kinderkrippe Purzelhuus und der Aargauischen Sprachheilschule entstand, wurde der Spielplatz in die südwestliche Ecke der Sportanlage Wilmatten verlegt.

Übersicht Spitzkehre und Schulareal Angelrain, die Seetalbahn-Gleise sind schwarz markiert. Quelle: Internet, GIS Aargau

Neubau der Dreifachturnhalle Angelrain


Der Rückbau des Seetalbahngleises ermöglichte den Neubau der Dreifachturnhalle Angelrain und der dazugehörenden Aussensportanlagen in den Jahren 2007/08. Wie aus dem abgebildeten Planausschnitt hervorgeht, zerschnitt das aufgehobene Gleis das entsprechende Areal und hätte den Bau der Dreifachturnhalle verunmöglicht.
Zwischen der Angelrainstrasse und der Unterführung unter der Kernumfahrung verläuft heute der Mühlemattweg im Bereich des ehemaligen Seetalbahn-Trassees.
Titelbild: Die Barriere an der Angelrainstrasse, 1970. Quelle: Fotosammlung Nussbaum