Zeitreise

Das Heumannhaus an der Schlossgasse

Wie es dazu kam, dass das Heumannhaus, in dem eine Zeit lang auch die Lenzburger Dichterin Sophie Hämmerli-Marti wohnte, so benannt wurde und was es mit Heilkunde und Heilmitteln zu tun hat.

Von Christoph Moser

Da die Strassennummerierung, d.h., die Nummerierung der Häuser nach ihrer Lage an der Strasse, erst 1957 eingeführt wurde, war es früher üblich, viele Liegenschaften nach einem bekannten Bewohner, Erbauer oder nach einer sonstigen Besonderheit zu benennen. Als Beispiele seien erwähnt das Dr. Müller-Haus (Bleicherain 7), die «Villa Malaga» (Schützenmattstrasse 7), das Hauserhaus (Stadtgässli 2), das Försterhaus am Kronenplatz (benannt nach dem Kreisförster Häusler), das Hirzelhaus an der Burghaldenstrasse 59 (benannt nach dem viele Jahre dort wohnenden Direktor der Seifenfabrik Lenzburg, Siegfried Hirzel) oder das nach dem ehemaligen Hutfabrikanten Walter Dürst benannte Dürsthaus an der Poststrasse 4. Den Lenzburger:innen ist die Liegenschaft Schlossgasse 2 seit bald hundert Jahren als Heumannhaus bekannt. Allerdings hat dieses Haus nie einem Herrn Heumann gehört oder ist von einem solchen bewohnt worden. Wie es zu diesem Namen kam, erfahren wir weiter unten. Erbauer war Johann Seiler, Marchand. Eine längere Zeit wurde es von zwei Generationen Hünerwadel bewohnt. Im letzten Viertel des 19. Jahrhundert nannte man es «Stadtammann Hämmerli-Haus».

Bild: Das Heumannhaus um 1950. Quelle: Schweizer Heimatbücher Nr. 79, Anna Kelterborn-Haemmerli: Sophie Haemmerli-Marti, Seite 56, Verlag Paul Haupt Bern, 1958

Der Bau des Heumannhauses


Trotz intensiver Recherchen im Stadtarchiv Lenzburg liess sich kein eindeutiger Hinweis auf das Baujahr finden. Indirekt kann aber das Baujahr in etwa bestimmt werden. Der Erbauer, Johann Seiler, 1716-1787, in den Quellen des Stadtarchivs zur Unterscheidung von weiteren Bürgern mit dem Namen Johann Seiler als «jünger» oder «Marchand» bezeichnet, war ein Sohn von Schultheiss Johann Seiler, 1683-1758, und ein Bruder von Samuel Seiler dem älteren, ebenfalls Schultheiss, 1720-1791. Letzterer war der Erbauer des Remund-Hauses am Steinbrüchliweg 1. Dieses 1767/68 erbaute Haus weist dieselbe Gestaltung der Ecklisenen und des Mittelportals auf wie das Heumannhaus. Von gleicher Gestalt ist auch das 1759/60 errichtete Hünerwadelhaus am Freischarenplatz. Alle drei Kaufmannshäuser weisen dasselbe Konzept auf: Grosse Gewölbekeller, Kontorräume im Erdgeschoss, darüber Wohngeschosse und im zweistöckigen Dachgeschoss Lagerräume für die Handelswaren.

Bild: Das Haus Remund am Steinbrüchliweg 1; das ursprüngliche Mittelportal an der Längsseite ist zu einem Fenster umgebaut worden. Quelle: Jubiläumsschrift 100 Jahre Hypothekarbank Lenzburg, 1968, Seite 31

Laut Fertigmanual XII (Stadtarchiv Lenzburg Signatur II C.147), Seite 450, hat Mnhhl. [mein hochwohllöblicher Herr] Schultheiss Johann Seiler seinem Sohn, Johann Seiler, jünger, am 7. Hornung [Februar] 1755 u.a. das Grundstück verkauft, auf welchem später das Heumannhaus errichtet wurde. Die Grundstückbeschreibung liest sich in der Sprache des Fertigungsmanuals wie folgt: «Item ein Stuck Kraut- und Baumgarten unden davon [gemeint unterhalb des davor erwähnten, bergseitig der Schlossgasse gelegenen Reblandes], zwüschen hl. Landschreiber Wagner [gemeint ist der Landschreibereigarten, welcher Gegenstand der letzten Zeitreise war] und der Burghaldenstrasse [heute: Schlossgasse], stösst aushin an hl. Samuel Seiler des Rahts, und ÿnhin an den Weg umb den Stadtgraben.»
Erstmals im Ratsprotokoll Nr. XLV (StAL II A.57) ist auf Seite 310 in einem Protokolleintrag vom 12. März 1776 von «hl. Johannes Seiller am Graben» die Rede. Aus dieser Protokollnotiz können wir schliessen, dass Johann Seiler neu an dieser Adresse wohnte und dass dementsprechend das Heumannhaus vermutlich 1775 erbaut worden ist.

Weitere Eigentümer des Hauses


Nach dem Tode von Johann Seiler am Graben 1787 ging die Liegenschaft an seinen Schwiegersohn Hieronymus Hünerwadel-Seiler, 1738-1807, bekannt als «Mayor am Graben» (den zahlreichen Vertretern des Hünerwadelgeschlechts mit oft gleichen Vornamen wurden bisweilen solche Ergänzungen beigefügt; es gab ja auch noch den Hieronymus Hünerwadel-Tobler, erster Stadtammann von Lenzburg ab 1803). 1807 erbte Samuel Hünerwadel am Graben, 1770-1845, die Liegenschaft. Dessen Schwiegersohn, Dr. med. G. Imhof-Hünerwadel, von Aarau, verkaufte die Liegenschaft 1861 an die Herren Theodor Oschwald-Ringier und Hermann Seiler, Handelsleute, von Lenzburg. Theodor Oschwald war der Ehemann von Fanny Oschwald-Ringier, der jüngsten Tochter von Nationalrat Johann Rudolf Ringier, dem Eigentümer der Burghalde.
Ende 1873 verstarb im Alter von erst 43 Jahren der Bruder von Fanny, Rudolf Ringier-Bregenzer, Gründer der Seifenfabrik Lenzburg, und im Juni 1874 starb nach der Geburt der Tochter Martha seine Gattin. Beide hatten beim Vater in der Burghalde gewohnt und hinterliessen zwei Waisen. Deshalb zog 1874 das Ehepaar Fanny und Theodor Oschwald-Ringier in die Burghalde und betreute neben den eigenen Kindern auch die Waisen des Bruders. Damit stand das Heumannhaus zum Verkauf.

Das Stadtammann Hämmerli Haus, die Geburtsstätte von «Mis Chindli»



Bild: Titelblatt des 1896 erstmals gedruckten Büchleins mit Kinderliedern. Quelle: Sophie  Haemmerli-Marti, Ebigs Für, Baden-Verlag 2003, Seite 351

Gemäss Eintrag im Fertigungsprotokoll vom 18. September 1874 erwarb Johann Hämmerli, 1824-1891, Gemeinderat, die Liegenschaft. Sie wurde im Volksmund in der Folge Stadtammann Hämmerli Haus genannt, da Johann Hämmerli, der Gründer der Waffenfabrik Hämmerli, das Amt des Stadtammanns bekleidete. Das sechste der sehr zahlreichen Kinder von Stadtammann Johann Hämmerli war der Arzt Dr. Max Hämmerli. Er heiratete im Herbst 1890 die Lehrerin und Bauerntochter Sophie Marti aus Othmarsingen. Das Haus war von 1890 bis 1897 der erste eheliche Wohnsitz des Paares, und hier entstand auch der erste Gedichtband «Mis Chindli» von Sophie Haemmerli-Marti. Der Autorin war es ein Anliegen, den jungen Müttern kindergerechte Texte zur Verfügung zu stellen, dank denen sie mit ihren Sprösslingen unsere Mundart pflegen und damit lebendig erhalten konnten. Dieses kleine Büchlein war der Anfang des grossen dichterischen Werkes unserer begnadeten Dichterin und engagierten Kämpferin für die Benachteiligten (u.a. für das Frauenstimmrecht).
Hier ein Muster aus «Mis Chindli»:

Barri

De Barri, de Barri
Springt hindermer no,
Er isch euse Wächter,
Cha alles verstoh.

Cha bälle und gumpe
Wi zhindevür,
Und znacht tuet er schlofe
Vor miner Tür.

Het Auge wi Stärne,
Es Fäl wine Leu,
Het vier Bei zum Springe
Und ich nume zwöi.

Nun wird die Liegenschaft zum Heumannhaus


Nach Abschluss seiner Ausbildung übernahm 1903 Apotheker Ernst Jahn, 1873-1952, die Führung der Löwen-Apotheke. Sie war nach dem frühen Tod seines Vaters, Viktor Jahn-Ringier, 1837-1882, von Stellvertretern geführt worden. Zielstrebig hat er aus der Löwenapotheke ein äusserst erfolgreiches Unternehmen gemacht. So hat er bereits 1908 aus Konkurrenzgründen die vis-à-vis in der Rathausgasse gelegene Apotheke von Greyerz gekauft und sofort stillgelegt.

Bild: Titelblatt des von der Löwenapotheke Ernst Jahn vertriebenen Büchleins von Pfarrer Heumann. Quelle: Privatarchiv der Löwenapotheke Lenzburg

Schon bald begann er mit dem Vertrieb der Heilmittel, die auf der vom deutschen Pfarrer Ludwig Heumann entwickelten neuen Heilmethode beruhten. Jahn erwarb um 1930 das Heumannhaus und liess 1929 durch den Architekten Richard Hächler Pläne erarbeiten für den Umbau von Keller und Erdgeschoss des Hauses für die Vorbereitung der Heumann’schen Heilmittel zum Versand. Und so bereiteten in den nächsten 20 Jahren hier fleissige Frauenhände die Zusammenstellung und den Versand der bestellten Heumann’schen Heilmittel vor. Jahn vertrieb auch das Büchlein «Pfarrer Heumann, die neue Heilmethode», das voller Bekennerschreiben war und neben Ausführungen von Pfarrer Heumann zu gesundheitlichen Problemen zahlreiche Reklamen für Heumann’sche Heilmittel, aber auch für Produkte der Löwenapotheke Ernst Jahn enthielt. Man kann davon ausgehen, dass Jahn eine Extra-Ausgabe dieses Büchleins für die Löwenapotheke Ernst Jahn Lenzburg drucken liess. Denn praktisch bei jeder der unzähligen Reklamen für ein Heilmittel ist als Bezugsquelle die Löwenapotheke Lenzburg aufgeführt.

Bild: Die ersten zwei Seiten aus dem Heumann-Büchlein. Quelle: Privatarchiv der Löwenapotheke Lenzburg

Dieses Geschäft muss äusserst erfolgreich gewesen sein. Einem gedruckten Exemplar der Steuerbuchauflage pro 1931, entnehmen wir, dass die Vertriebsstelle Heumann’scher Heilmittel mit einem steuerpflichtigen Vermögen von 77’000 Franken und einem Gesamterwerb von 40’000 Franken veranschlagt war. Für Apotheker Ernst Jahn persönlich lauten die Zahlen auf einen Gesamterwerb von 24’000 Franken sowie auf ein Reinvermögen von rund 200’000 Franken. Zum Vergleich: Der Gesamterwerb der Conservenfabrik Lenzburg wurde mit 583’000 Franken, jener der Hypothekarbank mit 120’000 Franken und jener der Wisa-Gloria-Werke AG mit 25’000 Franken angegeben. Wegen der seither eingetretenen Teuerung müssen diese Beträge um den Faktor 7 bis 8 multipliziert werden, um heutigen Werten zu entsprechen.
Die Löwenapotheke wurde ab 1948 von Benjamin Arnold geführt und ging am 1. Juli 1959 an Bernhard und Annemarie Senn über. Im Januar 1991 übernahm Dr. Martin Baumann die Apotheke und übergab sie im Juli 2020 an Nadine Cazzato. Bis und mit den 1950 erschienenen Lenzburger Neujahrsblättern 1951 finden sich Reklamen der Löwenapotheke, in welchen für die Heumann’schen Heilmittel geworben wird. Ab dem Jahrgang 1952 der Neujahrsblätter findet sich kein solcher Hinweis mehr. Apotheker Arnold hat offenbar diesen Geschäftszweig aufgegeben.
Das Heumannhaus ging nach mehreren Handwechseln an ein Lenzburger Ingenieurbüro und ein Baugeschäft und schliesslich an Architekt Martin Hauri, der es Ende der 1970er-Jahre renovierte und eine grosszügige Wohnung in den Dachgeschossen einbaute. Im Erdgeschoss wurde bis vor wenigen Jahren eine Arztpraxis betrieben, die nun als Wohnung dient. Mit der Physiotherapie-Praxis im Keller dient ein Teil des Heumannhauses auch heute noch der Heilkunde.
Titelbild: Reklame für Produkte der Löwenapotheke Ernst Jahn auf den Seiten 256 und 257 des Heumann-Büchleins.