Zeitreise

Der einstige Lustgarten der Landschreiberei ist längst verschwunden

So manche hübsche Gartenanlage, welche einst den Mauerring unseres Städtchens umgaben, ist längst verschwunden, so auch der Landschreibereigarten.

Von Christoph Moser

Die bernischen Landschreiber und ihr Lustgarten


Von 1415 bis 1798 wurde der Berner Aargau, das sind die Bezirke Aarau, Brugg, Kulm, Lenzburg und Zofingen, im Namen der gnädigen Herren von Bern durch die Landvögte regiert. Der wohl wichtigste dieser Landvögte hatte von 1444 bis 1798 seinen Sitz auf Schloss Lenzburg. Als Sekretär des Landvogts besorgte der Landschreiber den Schriftverkehr seines Dienstherrn und leitete die Verwaltung. Seinen Amts- und Wohnsitz hatte der Landschreiber nicht etwa auf dem Schloss, sondern in einem der Häuser der südlichen Zeile der Lenzburger Rathausgasse, im Gebäude der heutigen Löwenapotheke. Im 18. Jahrhundert hatte der Landschreiber einen ganzen Stab an Mitarbeitern, die den umfangreichen Schriftverkehr von Geschäftsfällen und Rechtsstreitigkeiten zu erledigen hatten, für welche der Landvogt zuständig war.
Johann Rudolf Wagner, Landschreiber von 1741 bis zu seinem Tode im Februar 1772, erwarb von Handwerksmeister Christoph Müller am 22. April 1754 einen «Einfang samt Garten darin vor dem oberen Thörli [dieses befand sich im Bereich der 1843 errichteten 1. Etappe des Alten Gemeindesaales], zwüschen Mnhl. [meinem hochwohllöblichen Herrn] Schultheiss Seiler [= Parzelle, auf der heute das Heumannhaus steht] und dem Stadtbach, aushin an Johannes Seilers Einfang, einhin an den Stadtgrabenweg stossend.» Fortan konnte der Landschreiber in dieser schön gestalteten barocken Gartenanlage lustwandeln und seine Gäste empfangen.
Der Landschreibereigarten, Auszug aus dem Katasterplan 1881. Quelle: Archiv Stadtbauamt Lenzburg

Noch im Katasterplan 1881 sehen wir die rund 2’500 m2 grosse Parzelle des ehemaligen Landschreibereigartens. Neben der Beschriftung «Theaterplatz» können wir die Umrisse des alten Gemeindesaales erkennen, rechts davon befindet sich das Heumannhaus mit seinem Garten. Am linken Bildrand verläuft das Stadtgässchen mit dem damals noch dort vorbeifliessenden Stadtbach. Der Plan zeigt eine von einer Mauer umgebene barocke Gartenanlage mit regelmässigen Gartenbeeten und einem Brunnen in der Südwestecke. An der nördlichen Grenze der Anlage liegt das Gartenhaus, das spätere «Gifthüsli» von Apotheker Jahn. Es wurde 1940 zum «Milchhüsli» umgebaut und beherbergt heute eine Polsterwerkstätte mit Antiquitätenhandel.

Die Landschreiberei samt Landschreibereigarten gelangt an Lenzburger Bürger


Landschreiber Johann Rudolf Wagner liess 1767 für sich die herrschaftliche Villa Sonnenberg errichten. Auch sein Nachfolger, Landschreiber Johann Rudolf Fischer, hatte seinen Wohnsitz in der Villa Sonnenberg. Da diese eine reizvolle landschaftliche Umgebung hat, schwand sein Interesse am privaten Landschreibereigarten. Er verkaufte diesen am 17. September 1773 seiner Obrigkeit, den gnädigen Herren von Bern. Der Landschreibereigarten gehörte damit wie die Landschreiberei selbst dem Stande Bern.
1798 setzte Napoleon der bernischen Herrschaft im Aargau ein Ende, und damit gehörten auch Landvogt und Landschreiber der Vergangenheit an. Die bernischen Besitztümer fielen dem Staate Aargau zu. Die Verwaltungskammer des Kantons Aargau veräusserte die Landschreiberei samt Landschreibereigarten im Rahmen einer Steigerung am 24. April 1799 dem Bürger Samuel Fischer, Apotheker in Lenzburg. Dieser betrieb bisher in einem anderen Gebäude der Stadt die seit 1710 hochobrigkeitlich konzessionierte älteste Apotheke Lenzburgs, die Löwenapotheke.
Nach dem frühen Tode des Enkels von Samuel Fischer heiratete dessen Witwe, eine Tochter des Ehepaars Markus und Elisabeth Hünerwadel-Hünerwadel, den Apotheker Franz Roder. Dieser verkaufte die Löwenapotheke 1863 dem aus Meiningen, Thüringen (D), stammenden Apotheker Viktor Jahn-Ringier. Dessen Gattin Bertha, war die zweitjüngste Tochter von Johann Rudolf Ringier, dem Eigentümer der Burghalde und Nationalrat. Nach dem frühen Tode von Viktor Jahn 1882 leiteten angestellte Apotheker die Löwenapotheke, bis 1902 der Sohn Ernst Jahn (1873-1952) die Apotheke nach abgeschlossener Ausbildung übernehmen konnte. Er hat die Apotheke mit dem Vertrieb der Heumannschen Heilmittel zur grossen Blüte gebracht. Dies wird das Thema unserer nächsten Zeitreise sein, welche sich mit dem Heumannhaus beschäftigen wird (siehe Titelbild=.

Zwei Drittel des Landschreibereigartens werden verkauft


Gemäss Fertigung vom 11. Januar 1911 verkaufte Ernst Jahn der 1910 gegründeten Milchgenossenschaft Lenzburg den nördlichen Teil des Landschreibereigartens mit dem Gartenhaus . Es handelt sich um 1’548 m2. Die restlichen 813 m2 des Gartens behielt er.
Situationsplan mit der rot eingezeichneten Grundfläche des Milchzentrale-Neubaus. Quelle: Baugesuchsakten Milchzentrale, Archiv Stadtbauamt Lenzburg

In der neu erstellten Milchzentrale konnten die damals noch zahlreichen Bauern ihre Milch abliefern. Die eingelieferte Milch wurde im Detailverkauf abgegeben oder zu Käse verarbeitet. Die Baugesuchsakten belegen, dass hier eine Käserei betrieben wurde: Der grosse zentrale Raum im Erdgeschoss ist mit «Maschinenraum» bezeichnet; einer der Keller mit «Salzlager», d.h., hier wurden die gesalzten Käse gelagert. Das grosszügige und solide Gebäude in einer Mischung aus Heimatstil und Jugendstil zeugt davon, dass die Genossenschafter eine bedeutende Summe in ihre Milchzentrale investierten.
Der Laden für den Detailverkauf lag in der Südwestecke des Gebäudes. Das noch heute vorhandene geschmiedete Motiv – MC – im Gitter der Eingangstüre zum ehemaligen Laden dürfen wir wohl als Zeugnis des Stolzes und der Zufriedenheit der Genossenschafter über das Werk interpretieren.

Die Eingangstür der Milchzentrale zum ehemaligen Verkaufsraum. MC steht für Milchcentrale (wie Centralbahn oder Restaurant Central). Quelle: Foto cm

Das ehemalige Gartenhaus wandelt sich zum «Milchhüsli»


Da der Laden in der Milchzentrale offenbar dem Kundenansturm nicht mehr genügte, entschloss sich die Milchgenossenschaft, das ehemalige Gartenhaus zum Verkaufslokal für Milch und Milchprodukte umzubauen. Das «Milchhüsli» wurde am 24. August 1940 eröffnet. Das Geschehen in der Milchzentrale bestimmte während 22 Jahren bis 1964 Hans Glauser. Dann übernahm für 26 Jahre Ernst Junker, Käsermeister, mit seiner Frau Erika die Verantwortung für den Betrieb. Es folgten Karl und Regula Schlüchter, die im renovierten «Milchhüsli» ab November 1990 die Kundschaft bedienten. Von April 1998 bis Juni 2006 kümmerten sich Pia und Urs Böhringer um die Wünsche der Kunden im «Milchhüsli».

Milchzentrale und «Milchhüsli» haben ausgedient


2006 wurde das Verkaufslokal in ein «Brothüsli» umgewandelt: Es diente der Bäckerei Jörg Lüscher, Seon, als Filiale. Seit rund 10 Jahren ist im altehrwürdigen Gebäude, dessen Türsturz in der Südfront die Stilmerkmale des Klassizismus Louis XVI aufweist, ein Polstermöbel-Atelier mit Antiquitätenhandel etabliert.
Auch die Milchzentrale gibt es als Betrieb längst nicht mehr. Der Wandel ging mit den Veränderungen in der Landwirtschaft und in der Milchverarbeitung einher. Lieferten früher zahlreiche Bauern die Milch in der Milchzentrale ab, so existieren in Lenzburg heute nur noch 2 Milchwirtschaftsbetriebe. Diese sammeln die Milch in einem sogenannten mit gekühltem Behälter versehenen Milchzimmer. Periodisch wird sie dann von einem Lastwagen eines Milchverarbeiters abgeholt. Die grossen Milchverarbeitungsbetriebe von Emmi usw. haben die zahlreichen örtlichen Käsereien und Molkereien von früher abgelöst.
Heute betreibt im Parterre der ehemaligen Milchzentrale Bio-Peter seinen Laden für biologische Lebensmittel.
Verschwunden ist auch der Milchmann, der in der Jugendzeit des Autors mit seinem Vehikel die Haushaltungen mit Milch versorgte. In den 1950er und frühen 1960er-Jahren holte man die Milch noch mit dem Milchkesseli im «Milchhüsli» oder eben beim Milchmann. Die länger haltbare Pastmilch war damals noch kaum verbreitet.

Der letzte Rest des Landschreibereigartens wird zum Parkplatz



Rechts von der Gebäudeecke der Milchzentrale erkennt man den letzten Teil des Landschreibereigartens mit seiner üppigen Vegetation und dem Eingangstor in der Umfassungsmauer. Quelle: Fotosammlung im Archiv des Stadtbauamts Lenzburg

1977 veräusserte Apotheker Bernhard Senn, der damalige Eigentümer der Löwenapotheke, der Stadt Lenzburg den verbliebenen Rest von 811 m2 des Landschreibereigartens der Stadt Lenzburg. Diese brach die den Garten einfassende Mauer auf 3 Seiten ab und rodete die Bäume und Sträucher. Nur gegen die Seifenfabrik blieb die Mauer erhalten. Das Erdreich wurde ausgehoben, und auf der ehemaligen Grünfläche entstand 1978 der geteerte Parkplatz «Stadtgässli». Damit wurde die Parkplatznot im Stadtzentrum gelindert. Die zunehmende Mobilität mit Personenwagen forderte ihren Tribut zu Lasten von Grünflächen.

Die Einwohnergemeinde erwirbt das Areal der Milchzentrale


2014 hat die Einwohnergemeine das Areal mit Milchzentrale und «Milchhüsli» von der Milchgenossenschaft Lenzburg erworben. Damit steht die Fläche des ganzen ehemaligen Landschreibereigartens (wieder) im Eigentum der Öffentlichkeit: Bis 1798 war dies der Stand Bern, heute ist es die Stadt Lenzburg. Dieser öffentliche Besitz ist um so bedeutender, als sich im Norden das Areal des Alten Gemeindesaals anschliesst und im Süden das der Ortsbürgergemeinde gehörende Seifi-Areal mit dem Hirzelhaus, dem von der Seifenfabrik verbliebenen Restbau und dem Seifi-Parkplatz.
Der neu errichtete Parkplatz «Stadtgässli» im Jahre 1978, dahinter die 1983 (mit Ausnahme des linken Teils) abgebrochenen Gebäude der ehemaligen Seifenfabrik Quelle: Fotosammlung Nussbaum, Museum Burghalde Lenzburg, VPA-094
Titelbild: Das ehemalige Gartenhaus des Landschreibereigartens, Zustand vor 1940, diente Apotheker Jahn als Lager für die Grundstoffe der Medikamente, im Volksmund als «Gifthüsli» bezeichnet. Quelle: Fotoband Liebes altes Lenzburg, Seite 54