Zeitreise

Der Eisenbahntunnel, durch den kein Zug mehr fährt

Wer sich zu Fuss oder mit dem Fahrrad von der Altstadt Lenzburg ins Gebiet nördlich des Bahndammes bewegt, überquert zuerst die Überdeckung «Erlengut» der Kernumfahrung und gelangt dann durch einen Tunnel auf die Nordseite des Bahndammes.

Von Christoph Moser

Den eckigen Portalvorbau aus Beton hat der Tunnel bei der Verbreiterung des Bahndammes für das 3. Gleis Gexi-Lenzburg in den Jahren 2008 bis 2010 erhalten. Dahinter ist der Tunnel aber in seiner alten Form erhalten geblieben.

Vom Strassentunnel zum Bahntunnel und wieder zum Strassentunnel


Getreu dem Leitsatz «Alles ist im Fluss» hat auch dieses Bauwerk den steten Wandel unserer Welt erlebt. Erstellt wurde es, als von 1872 bis 1874 der Bahndamm für die erste Bahnlinie in Lenzburg aufgeschüttet wurde, die am 15. Juni 1874 eröffnete Südbahn von Rupperswil nach Wohlen. Dieser Bahndamm zerschnitt die vorher ungetrennten Areale in seinem Süden und Norden. Deshalb wurde für die Erschliessung des im Norden gelegenen Gebiets ein Tunnel erstellt. Diesen musste man seinerzeit benützen, wenn man ins Frauen- und ins Männerbad gelangen wollte (siehe auch die Zeitreise «Hurra! Endlich ist das Schwimmbad wieder offen»).

Die Seetalbahn


Die Seetalbahn wurde von der 1881 in London gegründeten «Lake Valley of Switzerland Railway Company Limited» gebaut und betrieben. Sie ging nach elf Jahren in Schweizerische Hände über. Die Stammstrecke von Emmenbrücke nach Lenzburg wurde am 15. Oktober 1883 eröffnet. Die Teilstrecke Lenzburg Spitzkehre-Wildegg ging am 1. Oktober 1895 in Betrieb. Sie benützte – da sie ja auch im Seetal als Strassenbahn errichtet worden war – den bisherigen Strassentunnel durch den Bahndamm. In späteren Jahren nahm das Gleis im eigenen Schotterbett den grössten Teil des Tunnelquerschnitts ein. Daneben verlief, durch einen Zaun vom Gleis getrennt, ein ca. 1 Meter breiter Fussweg.

Der Seetalbahntunnel mit Gleis, Fahrleitung und seitlichem Gehweg (links) Quelle: Fotosammlung Stadtbauamt

Der Tunnel hat sogar in einem lokalen Lumpeliedli seinen Niederschlag gefunden:

Vo Länzberg uf Niderlänz, do het’s es Tunell,
we mer inefahrt wird’s dunkel,
we mer usechunnt wird’s hell.

Hintergrund dieses Liedes: Für den kurzen Tunnel wurde die Beleuchtung in den Personenwagen nicht eingeschaltet.
Auch die Seetalbahn wurde anfänglich mit Dampflokomotiven betrieben. Sie wies, bedingt durch die Strassentopographie, viele starke Steigungen auf. Auch der Abschnitt Lenzburg-Stadt bis Spitzkehre hatte eine Steigung von 37 Promille, mehr als die Gotthardbahn (27 Promille). Deshalb wurde die Seetalbahn bereits 1910, ein Jahrzehnt vor der ersten SBB-Linie, elektrifiziert, allerdings mit einem eigenen Stromsystem: Einphasenwechselstrom 5’500 Volt mit 25 Hertz. 1922 wurde die private Seethalbahn-Gesellschaft von den Schweizerischen Bundesbahnen übernommen. Deshalb wurde die Fahrleitung 1930 auf das übliche SBB-System mit 15’000 Volt und 16 2/3 Hertz umgebaut.
Die Seetalbahn mit dem alten Stromsystem Quelle: 100 Jahre Seetalbahn 1883-1983, Martinusverlag der Buchdruckerei Hochdorf AG

Wurde die Seetalbahn früher rege benützt, gingen die Frequenzen auf dem Abschnitt Lenzburg-Wildegg in den 1970er und 1980er-Jahren stark zurück. Für eine Eisenbahnfahrt nach Aarau hatten wir Lenzburger früher drei Möglichkeiten: Lenzburg-Rupperswil-Aarau, Lenzburg-Suhr-Aarau und Lenzburg Stadt-Wildegg mit Umsteigen nach Aarau. Mit der Heitersberglinie (1975) und der Einführung des Taktfahrplans (1982) gab es häufigere und schnellere Verbindungen von Lenzburg SBB nach Aarau. Eine Fahrt via Wildegg war nicht mehr attraktiv. Hinzu kam die zunehmende private Motorisierung.
Deshalb wurde der Personenverkehr auf der Linie Wildegg-Lenzburg am 2. Juni 1984 eingestellt. Seither ist für den Personenverkehr zwischen Lenzburg, Niederlenz, Möriken und Wildegg der Regionalbus Lenzburg im Einsatz. Gegen diese Umstellung erhob sich damals in Niederlenz Opposition. Mit dem Slogan «Wir stehen hinter der Seetalbahn» setzten sich Niederlenzer für den Erhalt des Bahnbetriebes ein. Dazu riet ein Lenzburger Behördemitglied den Niederlenzern, sie sollten nicht «hinter der Seetalbahn stehen», sondern «mit ihr fahren», dann wäre das Problem gelöst.
Ein Zug der Seetalbahn beim Niveauübergang Sägestrasse, vor dem Turmhaus, im Bereich der Anschlussgleisanlage VOLG Quelle: Internet, unbekannt

Die Gleise bleiben trotzdem noch 20 Jahre liegen


Der Bahnhof Lenzburg-Stadt hatte namentlich durch die Industriegleisanlage des VOLG-Betriebes einen sehr umfangreichen Güterverkehr. VOLG, später UFA, betrieb ein Mischfutterwerk und eine Kartoffelflockenfabrikation. Es wurden Gütermengen von über 40’000 Tonnen pro Jahr, mit grossen saisonalen Tagesspitzen, umgeschlagen. Dieser Güterverkehr musste auch nach der Aufhebung des Personenverkehrs weiterhin abgewickelt werden. Da schon damals klar war, dass die Bahnanlagen im Gebiet des Bahnhofs Lenzburg-Stadt der geplanten Kernumfahrung weichen müssen, wurde der Bau eines separaten Industriegleises projektiert. Dieses hätte ab der Industriegleisanlage der Hero nach Norden in Richtung Autobahn A 1 und im Bereich des Autobahnviadukts in das ehemalige Streckengleis Wildegg-Lenzburg Spitzkehre geführt, so dass die UFA weiterhin hätte bedient werden können. Dieses Projekt konnte indes nicht realisiert werden. So zirkulierten mehrmals täglich Zustellungsfahrten vom Bahnhof Lenzburg über die Spitzkehre zum Anschlussgleis der UFA. Schliesslich legte der Bundesrat die Bahnstrecke Wildegg-Lenzburg mit Beschluss vom 6. November 2002 still. Bereits 2001 hatten die SBB den Anschlussgleisvertrag mit der UFA auf den 31. Dezember 2002 gekündigt. Erst mir dem Entscheid des Bundesgerichts vom 29. November 2004 stand fest, dass es daran nichts mehr zu rütteln gibt, und so konnten ab dem 1. April 2005 auch die letzten verbliebenen Gleisanlagen abgebrochen werden. Die Fahrleitungen und Nebengleise waren schon vor Jahren entfernt worden. Wer sich näher für die komplexe Geschichte dieser Gleisaufhebung interessiert, kann sie in den Lenzburger Neujahrsblättern 2008 im Artikel von Christian Brenner über die Lenzburger Kerntangente auf den Seiten 38 bis 42 nachlesen.

Durch den Tunnel führt nun, wie am Anfang, wieder eine Wegverbindung.


Der Tunnel dient nun wieder als öffentlicher Weg für Fussgänger und Radfahrer. Auf dem ehemaligen Trassee der Seetalbahn verläuft von der Sägestrasse in Lenzburg bis zum Dorfrain in Niederlenz ein Fuss- und Radweg. Im umgebauten Mischfutterwerk der UFA arbeiten heute IT-Fachleute der finnova AG an Informatiklösungen für Banken. Die umfangreichen Anschlussgleisanlagen sind verschwunden. An ihrer Stelle ist teilweise eine unter- und oberirdische Parkierungsanlage für die finnova AG entstanden.