Kuriositätenkabinett

Die Sache mit dem Schandzipfel

Lenzburg hat eine bewegte Geschichte hinter sich – mit und ohne Fahnen. Ein schmerzlicher Punkt des Städtchens war die Sache mit dem Schandzipfel.

Von Irène Fiechter

 

Ein Schandzipfel? Was soll denn das sein? Keine Angst, hier geht es keinesfalls um Obszönitäten. In Konflikten im Mittelalter war es üblich, dass jede Kriegspartei – damals die verschiedenen Städte – eine Flagge mit sich trug. Ging diese in der Schlacht verloren, war das eine ziemliche Demütigung. Ersatz musste her. Damit die Peinlichkeit des Fahnenverlustes nicht so rasch vergessen ging, erhielt die neue Flagge einen sogenannten Schandzipfel.
Dieses Schicksal erlitten die Lenzburger 1386, als ihnen in der Schlacht bei Sempach die Fahne abhandenkam. Die Luzerner hatten sich während der Auseinandersetzung des wertvollen Stoffes bemächtigt und hängten alle erbeuteten Banner in der Franziskaner Kirche in Luzern auf. Als ob es dieser doch eher unchristlichen Tat nicht schon genug wäre, wurden die Fahnentücher, wenn sie in Zerfall übergingen, auf die Wände des Mittelschiffes der Kirche gemalt.
Zur Strafe und als Erinnerung an diese Schande mussten die Lenzburger das neue Banner also mit einem Lappen, dem erwähnten «Schandzipfel» versehen. Auch die Schaffhauser ereilte damals beinahe diese Schmach. Da der Fahnenträger aber bei der Verteidigung der Fahne sein Leben liess, wurden sie vor der Ergänzung eines Schandzipfels verschont.



Den Lenzburgern gestattete die damalige Berner Regierung erst 1487 – also 101 Jahre später – den «ominösen Zipfel» wieder zu entfernen. Endlich ohne Schandzipfel!
Nochmals 103 Jahre später geschah das nächste Unglück. Zu dieser Zeit befanden sich die wertvollen Gegenstände der Stadt im Kirchengewölbe. Dort stiegen am 19. Dezember 1590 in einer stürmischen Nacht sechs «böse, arge Buben» hinab. Die Diebe brachen eine Truhe auf, aus der sie das Stadtbanner, zwei schöne silbervergoldete Kelche und eine «sehr beträchtliche Barschaft» stahlen. Nachdem der Einbruch am nächsten Morgen entdeckt worden war, schickten der Schultheiss und der Rat die Bürgerschaft Lenzburgs aus, um Jagd auf die Bande zu machen. Zwei der Übeltäter wurden gefasst und, ohne lange zu fackeln, gehängt. Die Diebe hatten ihre Beute zuvor jedoch unter sich aufgeteilt. Zwei Drittel blieben unauffindbar. Ärgerlich war, dass die «bösen Buben» nicht nur das Edelmetall, sondern auch die Fahne unter sich aufteilten! Ausgerechnet der wichtigste Teil der des Lenzburger Wappens, die blaue Kugel, verblieb in Diebeshänden.
So musste der Schultheiss Spengler nach Bern reisen und die dortige Regierung um ein neues Banner bitten. Eine peinliche Sache für die Lenzburger. Die Berner Obrigkeit befand jedoch, dass die Fahne dieses Mal ohne Schuld verloren gegangen war. Die Ersatzfahne blieb also schandzipfelfrei.

Fahnen heute


Bestrafungen für entwendete Fahnen haben in einigen Kreisen die Zeit bis heute überdauert.
Bei den «Ultras» – also beispielsweise extremen Fussballfans – sind die Konsequenzen für ein Verlust der Fahne besonders hart. Geht das Banner verloren, mit dem eine Ultra-Gruppe im Stadion ihre Präsenz unterstreicht, verlangen es ihre Regeln, dass sich diese Gruppe anschliessend auflösen muss.

Heute darf die Lenzburger Fahne frei im Wind flattern und ist nicht mehr in einem Gewölbe weggeschlossen. Glücklicherweise ist auch die Diebstahlgefahr nicht mehr so hoch. Und sollte die Fahne doch mal abhandenkommen, muss die Lenzburger Regierung wenigstens nicht mehr nach Bern reisen, wenn sie eine neue aufhängen möchten.

Keine blauen, aber hölzerne Kugeln gibt es zurzeit in der Sonderausstellung «Schatzkammer Wald» des Museum Burghalde. Dies ist ein weiterer Schatz der Stadt: das Lenzburger Gold.

Die Hintergrundinformationen zum Schandzipfel wurden dem Buch «Das Rathaus zu Lenzburg» von Emil Braun und Peter Mieg, 1942 und dem Artikel «Schaffhausens Anteil am Sempacherkrieg» von Karl Schib, 1939 entnommen.