Zeitreise

Hoch – höher – am höchsten

Oder: Welche Bauwerke das Stadtbild im Laufe der Zeit prägten.

Von Christoph Moser

In der letzten Zeitreise befassten wir uns mit der Wohnungsnot während und nach dem zweiten Weltkrieg. Von 1950 bis 1974 stieg die Einwohnerzahl markant von 4’949 auf 7’784. Damit einher ging eine rasche Ausdehnung der Siedlungsfläche, zuerst mit drei- bis viergeschossigen Mehrfamilienhäusern, dann von 1962 bis 1980 mit insgesamt zwölf 8 bis 16 Stockwerke zählenden Hochhäusern. Sie sind heute im Stadtbild nicht zu übersehen. Nach einer längeren Pause folgte 2017 das jüngste Hochhaus im Quartier «Im Lenz» beim Bahnhof (ehemaliges Hero-Areal).

Das Schloss und die Altstadt am Fusse des Schlossbergs prägten das Stadtbild über Jahrhunderte


Das höchste und weit ins Land hinaus grüssende Bauwerk Lenzburgs ist bis heute unser seit Tausend Jahren auf dem Schlossberg thronendes Schloss. Dank seiner erhöhten Lage machte ihm bis heute auch kein noch so hohes Gebäude der Siedlung Konkurrenz.

Bild: Johann Baptist Isenring, Lenzburg, Bleistiftzeichnung, um 1830. Quelle : Alte Ansichten von Lenzburg, AT Verlag, 1992, Seite 116

Was zeigt uns die Zeichnung von Isenring? Die Altstadthäuser mit ihren hohen Dächern überragen den von Scheunen gebildeten Mauerring. Aus ihnen stechen der 34 Meter hohe Kirchturm, das Rathaustürmli und der Turm des unteren Tores sowie, rechts davon, das hünerwadelsche Handelshaus, ab 1788 Schulhaus, heraus. Ferner (gegen den linken Bildrand hin) das Haus Remund am Steinbrüchliweg 1. Die Altstadthäuser sind übrigens wesentlich höher als die im 19. und 20. Jahrhundert um das Stadtzentrum herum und im Westquartier erstellten zwei- bis viergeschossigen Bauten. Denn die Altstadthäuser sind mit steilen Dächern bedeckt, die meist nochmals so hoch sind wie die Hausfassaden. Ihre Firsthöhe erreicht bis zu 24 Meter. Die Höhe des ältesten, achtgeschossigen Wohnhochhauses an der General Herzog-Strasse 43c liegt mit 26 Metern nur knapp darüber. Als Hochhaus erscheint es nur im Vergleich mit den umstehenden viergeschossigen Flachdach-Mehrfamilienhäusern.
Insgesamt zeigt sich das Siedlungsbild der Stadt Lenzburg sehr homogen, und so präsentierte es sich von der zweiten Hälfte des 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts.

Markante Industriebauten zu Beginn des 20. Jahrhunderts


Neue Akzente im Stadtbild setzten um 1910/12 der Fabrikneubau der Conservenfabrik Hero und das gleichzeitig am Aabach erstellte grosse Fabrikgebäude der WISA-GLORIA. Das Wisa-Gebäude ist mit seinen 4 hohen Geschossen und einem hohen Dach höher als der benachbarte erste Lenzburger «Wolkenkratzer», das Türmlihaus von 1914. Ebenso dominant wirken die im Bauhausstil 1930/32 errichteten grossen Industriebauten der WISA-GLORIA.

Bild: Rechts unten erkennen wir das Türmlihaus, dahinter den grossen Wisa-Fabrikneubau von 1912 und parallel zum oberen Bildrand den Industriebau von 1930/32 mit dem Bürohaus-Kubus davor. In der oberen rechten Bildecke ist noch der 1991 abgebrochene Fabrikkamin zu sehen. Aufnahme von 1966. Quelle: Fotosammlung Nussbaum, Museum Burghalde Lenzburg IGE-003

Bei der Neu-Überbauung des Hero-Areals von 2013 bis 2018 blieb leider nur der an der Bahnlinie liegende Teil des grossen Gebäudequadrates der Hero von 1910/12 erhalten. Er ist gleich hoch wie die dahinter erstellten achtgeschossigen Neubauten. Dies zeigt, wie imposant dieser Industriebau für die damalige Zeit war.

Bild: Hero-Fabrikgebäude (Bildmitte) von Süden, ca. 1950. Quelle: Alfred Willener, Lenzburg als Industriestandort, Lenzburg 1950, Abbildung Nr. 14

Bis heute wird das Stadtbild auch geprägt vom grossen 1930 eingeweihten Bezirksschulhaus am Bleicherain (heute: Schulhaus Bleicherain). Blickt man von der Umgebung der Altstadt her gegen Westen ist dieser 64 Meter lange Bau mit einer Firsthöhe von 24 Metern nicht zu übersehen, zumal er leicht erhöht an der Hangkante zum Aabach steht.

Die Zeit der Fabrikkamine


Aus dem Stadtbild verschwunden sind dagegen die zahlreichen Fabrikkamine, die zuweilen mit schwarzen Rauchwolken vom Wirken der Lenzburger Industrie zeugten. 1874 wurde Lenzburg ans Eisenbahnnetz angeschlossen. Damit war es möglich, Kohle anzuliefern und Dampf für den Antrieb der Maschinen und weitere industrielle Prozesse zu erzeugen. Solche mit roten Backsteinen gemauerte runde, zum Teil sehr hohe Kamine gab es in der Seifenfabrik (abgebrochen, heute Seifi-Parkplatz), bei der Kartonfabrik im Wil (Fabrik und Kamin abgebrochen), bei der Langenbach AG, bei der Konservenfabrik Hero, bei der WISA-GLORIA und bei der Hero Fleischwarenfabrik an der Niederlenzerstrasse. Heute steht nur noch der verhältnismässig niedrige Kamin bei der ehemaligen Hero Fleischwarenfabrik.

VOLG-Silo, für längere Zeit das höchste Lenzburger Bauwerk


Der 1957/58 erstellte VOLG-Getreidesilo war mit 41 Metern während 15 Jahren das höchste Bauwerk in der Stadt. Für seinen Bau wandte die damals noch existierende, 1868 in Lenzburg gegründete Baufirma Theodor Bertschinger ein spezielles Bauverfahren an, nämlich die sogenannte Gleitschalung: Mit dem Emporwachsen des Bauwerkes glitt die Schalung, in welche der Beton eingefüllt und verdichtet wurde, schrittweise nach oben. Für den Autor als damals zehnjährigen Buben war es spannend, diesen Arbeiten zuzuschauen.

Bild: Der VOLG-Silo, rechts davon das Mischfutterwerk, Aufnahme ca. 1965. Quelle: Chronik der Bezirke Lenzburg und Kulm, Verlag H.A. Bosch, Zürich, 1966, Seite 38

Diesem architektonisch schön gestalteten Bauwerk wurde 1974/76 auf der Ostseite ein plump wirkender Anbau hinzugefügt. Ihre Aufgabe verlor die Silo-Anlage mit der Aufhebung des von der Firma ufa (Nachfolgerin des VOLG im Rahmen des fenaco-Konzerns) betriebenen Mischfutterwerks im Jahre 2005. Während das Mischfutterwerk anschliessend zu einem Bürohaus umgebaut wurde und seither die Banken-Software-Firma finnova beherbergt, warten die Silos auf eine neue Nutzung.

Das erste Lenzburger Hochhaus


… wurde 1962/63 an der Aarauerstrasse im Areal der ehemaligen Sägerei Renold erstellt. Es ist die heutige Postadresse General Herzog-Strasse 43c. Dieses 8 Wohngeschosse aufweisende Gebäude ist (mit Liftaufbauten) ca. 26 Meter hoch. Leider verfügt der Autor über keine Fotografie aus der Bauzeit, so dass sich die Leser mit einer aktuellen Aufnahme begnügen müssen. Im gleichen Areal wurden 1972/73 (General Herzog-Strasse 41) und 1974/75 (General Herzog-Strasse 39) noch zwei weitere identische Hochhäuser errichtet.
Neben den damals völlig neuen Höhenverhältnissen – bisher gab es höchstens viergeschossige Neubauten – beeindruckte ein weiteres Merkmal dieses Bauwerks den Betrachter: Für die bisherigen Wohnblöcke, deren Parterre meist ein halbes Geschoss über dem natürlichen Terrain lag, mussten nur Baugruben von geringer Tiefe ausgehoben werden; nicht so bei diesem Wohn-Hochhaus: Der Autor erinnert sich, dass damals eine Baugrube für einen mindestens zweistöckigen Keller ausgehoben wurde. Überdies liegen die 8 Wohngeschosse über einem ebenerdigen Sockelgeschoss. Entsprechend der höheren Anzahl Wohnungen auf der Grundfläche des Hauses mussten mehr Keller- und Waschküchenabteile verwirklicht werden, was – zusammen mit den Luftschutzräumen – mehrere Keller-Stockwerke erforderte.

Bild: Das älteste Lenzburger Hochhaus von 1962/63 an der General Herzog-Strasse 43c, Aufnahme von 2024. Quelle: Aufnahme CM

Die Zirkusmatte wird überbaut


Das zweitälteste Hochhaus von Lenzburg ist jenes in der Südwestecke der Zirkusmatte (Postadresse Hallwilstrasse 24). Es wuchs 1963/64 in die Höhe. Erwähnung verdient diese Überbauung vor allem deshalb, weil sie an die Stelle jener Nutzung trat, welche dem Baugrund den Namen gegeben hatte.
In den 1950er bis anfangs der 1960er-Jahre erlebte Lenzburg mehrmals pro Jahr Zirkusgastspiele auf dieser etwas mehr als 6’000 m2 messenden Wiese zwischen Murackerstrasse, Hallwilstrasse, Zeughausstrasse und Färberweg. Nicht nur Zirkus Nock und Zirkus Pilatus erfreuten damals die Schüler und die Erwachsenen aus Lenzburg und Umgebung mit Hochseilakten, Dompteur-Nummern, Akrobatikvorführungen, Lachnummern der Clowns usw., sondern damals kam Lenzburg alle zwei Jahre auch in den Genuss eines Gastspiels des Zirkus Knie. Gerade für letzteren war die Lage nahe beim Bahnhof ideal, zügelte er doch seine ganze Menagerie per Eisenbahn. Diesen beliebten Zirkusgastspielen mitten in Lenzburg setzte die Überbauung des Areals, welche mit dem Bau des Hochhauses begann, 1963 ein Ende. Seither sind die Zirkus-Gastspiele auf die Schützenmatte verbannt. Gerne hätten wir Ihnen eine Fotografie eines der Zirkusgastspiele auf der Zirkusmatte präsentiert, doch leider fand sich in den zur Verfügung stehenden Foto-Sammlungen kein solches Bild.

Bild: Das Hochhaus Zirkusmatte an der Hallwilstrasse 24, Aufnahme von 2024. Quelle: Aufnahme CM

Die Geschichte der Hochhäuser, die nun zusehends höher werden, setzen wir in der nächsten Zeitreise fort. Dort ist dann auch von einem «halben Hochhaus» die Rede, bei welchem die Realität die Planung überholt hat.
Titelbild: Der Kamin der Kartonagen- und Wellpappenfabrik Langenbach AG an der Zeughausstrasse (heute Coop-Supermarkt), Aufnahme ca. 1965. Quelle: Chronik der Bezirke Lenzburg und Kulm, Verlag H.A. Bosch, Zürich, 1966, Seite 42