Zeitreise

Die Villa Sonnenberg – Teil II

Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

Von Christoph Moser

Jüngst hat die Villa Sonnenberg an der Schlossgasse 50 nach mehrjähriger, sorgfältiger und aufwendiger Renovierung als Kultur-Gästehaus ihre Tore geöffnet. Dies gibt Anlass, auf die Geschichte des Hauses und seiner Bewohner Rückschau zu halten. Was die Villa von 1767 bis 1890 erlebte, bildete Gegenstand der «Zeitreise» vom Oktober. Die aktuelle Zeitreise befasst sich mit der jüngsten Geschichte des Hauses und seiner Bewohnerinnen und Bewohner.

Die Villa Sonnenberg wird Wohnsitz eines Kaufmanns


Wie wir von der letzten «Zeitreise» her wissen, starb Gerichtsschreiber Dr. Arnold Hirzel, Eigentümer des Sonnenbergs seit 1872, im Juli 1887. Da seine Hinterlassenschaft wegen seiner wenig erfolgreichen Beteiligung an der «Aargauischen Tabak- und Zigarrenfabrik Gnadenthal Schweiz» überschuldet war, wurde die Villa Sonnenberg mit ihrem grossen Umschwung versteigert. Den Zuschlag erhielten für 34’000 Franken die Kaufleute Emil Rohr-Hünerwadel und Eduard Hünerwadel-Diebold, Verwandte in dritter Generation des ehemaligen Eigentümers Abraham Rohr. Sie traten die Villa auf den 17. Juni 1889 für 28’000 Franken an Frieda Häussler-Bachmann ab, welche im Haus eine Wirtschaft eröffnete. Dieser war aber kein Erfolg beschieden, und so verkaufte Frau Häussler die Liegenschaft gemäss Eintrag im Fertigungsprotokoll vom 9. Oktober 1891 für 35’000 Franken an Arnold Dürst-Eichenberger, Kaufmann in Lenzburg. Sie löste dabei 7’000 Franken oder 25% mehr, als sie 1889 bezahlt hatte. Offenbar hatte nun in Lenzburg eine Erholung von der Krise eingesetzt, die durch den Nationalbahnkonkurs vom Februar 1878 ausgelöst worden war. Durch die Beteiligung an der Bahngesellschaft und die Garantieleistung für eine Obligationenanleihe war der Gemeinde eine Riesenschuld erwachsen, deren Tilgung bis in die 1940er-Jahre dauerte. Die Handlungsfähigkeit der Gemeinde war eingeschränkt, und die Steuern mussten 1884 um 25% erhöht werden. Dies führte in der Zeit von 1880 bis 1888 zu einem Rückgang der Einwohnerzahl um 10%, nachdem diese von 1860 bis 1880 von 2’069 auf 2731 Personen gestiegen war.

Familie Dürst, aus dem Glarnerland zugewandert, entwickelt sich zu einem erfolgreichen Kaufmannsgeschlecht


Der am 17. Mai 1859 geborene Arnold Sebastian Dürst-Eichenberger entstammt einem alten Glarner Geschlecht. Seine Grosseltern Niklaus (1809-1844) und Magdalena (1812-1888) Dürst-Figi zogen 1840 von Dornhaus, Diesbach, Kanton Glarus, in Lenzburg zu. Der Stadtrat bewilligte Niklaus Dürst auf Vorlage seines Heimatscheins und überaus günstigen Leumundszeugnisses ein Niederlassungszeugnis für hiesige Gemeinde. Er wurde mit einem jährlichen Einsassengeld von 20 Franken belegt.
Sein Sohn Sebastian Dürst (1832-1878), verheiratet mit Albertine Häusler (1834-1887, Tochter des Lenzburger Bürgers Johannes Häusler, Pfister) wird mit Beschluss der Ortsbürgergemeinde Lenzburg vom 1. Oktober 1861 eingebürgert. Bei einem Vermögen von 4’000 Franken und einem jährlichen Erwerb von 2’000 Franken beträgt die Einkaufssumme 4’200 Franken (nach heutigem Wert rund 200’000 Franken). Derart exorbitante Einkaufssummen waren im 19. Jahrhundert allgemein üblich. Dabei muss man berücksichtigen, dass die Bürger Anrecht auf den Bürgernutzen hatten. Im Übrigen finanzierte sich die Ortsbürgergemeinde – welche damals weitgehend die öffentlichen Aufgaben erfüllte – bis um 1870 von ihren Kapitalerträgen (und gerade auch durch die Einkaufssummen) und musste von den Bürgern keine Steuern erheben. Von den Niedergelassenen oder Hintersassen, wie sie früher genannt wurden, wurde dagegen ein jährliches Einsassengeld erhoben.
Neben 6 Töchtern hatte das Ehepaar Dürst-Häusler 2 Söhne: Walter Dürst-Pauli (1858 bis 1922) und den obenerwähnten Eigentümer der Villa Sonnenberg, Arnold Sebastian Dürst-Eichenberger (1859 bis 1906).
Walter Dürst-Pauli hatte neben zwei Töchtern einen Sohn, Walter Albert Dürst (1891 bis 1966). Er hat das Geschäft seines Vaters und seines Onkels weitergeführt. Dem Ehepaar Arnold Sebastian und Pauline Dürst-Eichenberger wurden zwei Söhne und zwei Töchter geboren. Von diesen Kindern trat keines in das elterliche Geschäft ein.
Der Grossvater von Arnold Dürst, Niklaus Dürst, eröffnete 1840 in der Rathausgasse ein Detailgeschäft in Merceriewaren und Stoffen, speziell Glarnerprodukte. Nach seinem frühen Tod 1844 wurde das Geschäft zuerst von seiner Witwe und dann von seinem Sohn Sebastian Dürst (1832 bis 1878) weitergeführt. Die beiden Grosssöhne, Arnold Sebastian Dürst-Eichenberger und Walter Dürst-Pauli, verkauften dieses Geschäft in der Rathausgasse, das nach weiteren Handänderungen an das Kleidergeschäft Stuber-Dätwyler überging. Sie selber führten die alte Firma als Engrosgeschäft in Mercerie und Modewaren weiter, zuerst noch an der Rathausgasse (im mittleren der drei Häuser), dann im Parterre des Försterhauses am Kronenplatz. Die drei Liegenschaften in der Rathausgasse (Kleidergeschäft Stuber-Dätwyler) wurden anfangs der 1970-Jahre durch einen Neubau ersetzt. Heute befindet sich darin die Papeterie Ryser. Die Entwicklung der Firma Dürst war derart, dass im Jahre 1903 ein Neubau an der Poststrasse 4 nötig wurde. 1922 übernahm der Sohn von Walter Dürst-Pauli, Walter Albert Dürst, das Geschäft und stellte dort fortan als Firma W.A. Dürst selber Damenhüte her, wozu Hutnähmaschinen, Hutpresse, Appreturanlage, Dampfkessel usw. eingerichtet wurden. Ende September 1965 gab Walter Dürst seine Hutfabrik altershalber auf.

Bild: Das Geschäftshaus der Hutfabrikation Dürst an der Poststrasse, Zustand um 1950; in den 1980er-Jahren wurde das Gebäude rechts und links des Mittelturms um ein Stockwerk erhöht
Quelle: Alfred Willener, Lenzburg als Industriestandort, Lenzburg 1950, Seite 41

Walter Dürst-Eichenberger verwandelt die Villa Sonnenberg wieder in einen würdevollen Wohnsitz


Seit 1797 war die Villa Sonnenberg durch die an ihrer Südwestecke angebaute Scheune bedrängt und in ihrer Wirkung als nobler Wohnsitz beeinträchtigt. Beim damaligen Eigentümer Johann Jakob Zimmerli überwogen die praktischen Bedürfnisse die Ästhetik, und so liess er 1797 einen geräumigen Käsekeller und darüber eine stattliche Scheune an die Villa anbauen. Die auf ihn folgenden Eigentümer Abraham Rohr und seine Witwe, Dr. Arnold Hirzel und die Wirtin Frieda Häussler behielten diese Scheune bei, die beim grossen Umschwung des teilweise landwirtschaftlich genutzten Gutes ja auch von einigem Nutzen war.
Nicht so Arnold Dürst: Er liess 1897 die Scheune abtragen und an ihrer Stelle über dem Käsekeller einen Kiesplatz errichten, der gegenüber dem tiefer liegenden Garten mit einer in barockem Stil gehaltenen Balustrade abgeschlossen wurde. Wohl damals wurde der Garten weitgehend im englischen Stil schön gestaltet und die Villa damit in einen vornehmen Wohnsitz mit prächtigem Garten ungestaltet.

Bild: Der Sonnenberg, aufgenommen vor 1914 von Südwesten; im Vordergrund erkennt man den an Stelle der Scheune errichteten Kiesplatz mit Balustrade im barocken Stil. Quelle: beigelegte Foto aus dem Buch «Sonnenberg» von Anja Furrer

Arnold Dürst konnte seinen schön gestalteten Wohnsitz nicht sehr lange geniessen. Er starb bereits 1906 im Alter von erst 47 Jahren. Seine Witwe bewohnte, vorerst zusammen mit den Kindern, die Villa bis zu ihrem Tode 1953.

Dr. Peter Mieg – die Villa Sonnenberg 50 Jahre lang Zentrum seines kompositorischen, malerischen und literarischen Wirkens


Nach dem Tode seiner Mutter, Hedi Mieg-Hünerwadel, am 21. Februar 1938 kehrte Dr. Peter Mieg, der 1933 bis 1938 in Basel gewirkt und gelebt hatte, nach Lenzburg zurück. Zusammen mit seinem Vater bewohnte er ab 1939 das Parterre der Villa Sonnenberg und zwei Zimmer unter dem Dach. Die Vermieterin, Frau Paula Dürst-Eichenberger, lebte bis zu ihrem Tod 1953 im ersten Stock. Nach dem Tod des Vaters 1948 und nachdem Peter Mieg die Liegenschaft 1955 hatte erwerben können, bewohnte er vorerst das ganze Haus. Stets umhegte den koch- und putzunkundigen Junggesellen bis an sein Lebensende eine Haushälterin; zuerst war es Emilie, die seit vielen Jahrzehnten schon seinen Eltern gedient hatte. Dann betreute ihn lange Jahre Frau Marie Stauber. Die Wohnung im 1. Stock bewohnte später das Ehepaar Wilhelm und Dorothea Steidl-Mieg, eine Nichte von Peter Mieg.
Das übrige Areal des grossen Gutes Sonnenberg, zwischen der Villa mit Garten und dem Unteren Haldenweg (ca. 1,5 Hektaren), kaufte der Architekt Richard Hächler. Auf dem letzten noch nicht überbauten Teil dieses Areals an der Sonnenbergstrasse wird übrigens in nächster Zeit die Überbauung «Bellevue» errichtet.
In der Villa Sonnenberg schuf Peter Mieg mit unermüdlichem Fleiss in einem streng gegliederten Tages- und Nachtablauf am Flügel seine Kompositionen – jeden Tag unerbittlich zehn Takte, ab 1950 nur noch im Auftrag, im Ganzen 150 Kompositionen. Am Schreibtisch entfaltete er mit höchster Präzision und Pünktlichkeit eine enorme Korrespondenz mit seinem Bekannten- und Freundeskreis, mit berühmten Künstlern – es sei nur an Thornton Wilder, Hermann Hesse, Thomas Mann, Günther Grass, Annette Kolb und Franz Max Herzog erinnert, an die Musiker Frank Martin, Gottfried von Einem, Alexander Tscherepnin, Arthur Honegger, Conrad Beck, Rolf Liebermann, Heinz Holliger, Edmond de Stoutz und Willy Schuh. Hier entstanden die detailverliebten autobiographischen Schriften («Das Arkanum oder Aus der Werkstatt eines Komponisten» und «Laterna magica») und die vielen Berichte über Ausstellungen, Konzerte und neue Bücher. Vom Sonnenberg aus pflegte er auch den Gedankenaustausch mit den Nachbarn, mit seinem Cousin Jean Rodolphe von Salis und Hermann Burger.

Bild: Peter Mieg beim Komponieren am Flügel. Quelle: Anna Kardos, Tom Hellat, Auf der Suche nach dem eigenen Klang, Verlag Hier und Jetzt, Baden, 2016, Seite 141

Von den frühen 1930er Jahren an widmete sich Peter Mieg auch der Malerei, wobei der Aquarellist mit der Liebe zu den deckenden Gouachefarben in erster Linie Blumen- und Früchtestillleben (seltener Landschaften) in virtuos komplementären und harmonischen Farbklängen heftiger und lyrischer Faktur malte und damit eine stets wachsende «Gemeinde» zu fesseln wusste. Der Maler wirkte dabei meist bei künstlichem Licht im Korridor des Parterres der Villa.

Bild: Im Korridor des Sonnenbergs, bei elektrischem Licht und inmitten von Konzertplakaten entstehen Peter Miegs Aquarelle und Gouachen. Quelle: Kardos, Hellat, a.a.O., Seite 88

Die Peter Mieg Stiftung bewahrt die Villa Sonnenberg und den Nachlass


Peter Mieg, der am 7. Dezember 1990 verstarb, widmete seinen Nachlass der Peter Mieg-Stiftung. Ihr Zweck ist die Pflege der künstlerischen Hinterlassenschaft des Komponisten, Malers und Publizisten Peter Mieg. Durch die Aufführung seiner Werke, die Ausstellung seiner Bilder sowie durch weitere geeignete Tätigkeiten soll das Andenken an Peter Mieg bewahrt und sein Werk erhalten werden.
Die Stiftung bewahrte die Räume im Erdgeschoss in dem Zustand, wie sie sich beim Tode des Stifters befanden. Die Villa Sonnenberg war sporadisch dem Publikum geöffnet, oder es fanden kulturelle Anlässe statt. Die Wohnung im Obergeschoss bewohnte weiterhin das Ehepaar Steidl-Mieg.
In weiser Voraussicht auf die Tatsache, dass die Mittel der Stiftung nicht unbeschränkt waren und insbesondere nicht zur Finanzierung der sich je länger desto mehr aufdrängenden Sanierung des historisch wertvollen Gebäudes ausreichten, legte Peter Mieg in seinem Testament fest, dass die Stiftung ihr Fortbestehen nach Ablauf eines gewissen Zeitraumes überprüfen dürfe. So entschloss sich die Stiftung 2017, den Verkauf des Sonnenbergs einzuleiten, um so ihr weiteres Überleben zu sichern. Sie hat den Sonnenberg 2017 verlassen und hat ihren Sitz seither im Dr. Müller-Haus am Bleicherain 7. Die Suche nach einem geeigneten Käufer, der bereit war, erhebliche Mittel in die Restaurierung der Liegenschaft zu investieren, gestaltete sich sehr schwierig.

Dr. Christine von Arx und die Stiftung Villa Sonnenberg


Der langen Suche war ein glückliches Ende beschieden: Im Dezember 2019 erwarb Dr. Christine von Arx, die sich kurz zuvor von der Leitung des Museums Burghalde Lenzburg zurückgezogen hatte, die Liegenschaft Sonnenberg und gründete 2021 die Stiftung Villa Sonnenberg. Stiftungszweck ist die Erhaltung und öffentliche Zugänglichmachung der Villa Sonnenberg. Sie betreibt ein Kultur-Gästehaus, das der Allgemeinheit für Anlässe, Tagungen und Übernachtungen offensteht und fördert den internationalen Kunst- und Kulturaustausch durch ein «Artist in Residence»-Programm.
Mit einer sehr grossen Investitionssumme und mit privaten und institutionellen Unterstützern wurde die Liegenschaft bis Ende Herbst 2023 aufs Sorgfältigste renoviert und in ein Kultur-Gästehaus umgebaut. Im ehemaligen Waschhaus entstand ein Atelier.
Die Liegenschaft war sehr renovationsbedürftig. Eine äusserst grosse Herausforderung und sehr aufwendig war die Restaurierung historischer Elemente, die an vielen Stellen unter den darüberliegenden Schichten entdeckt wurden. So konnte unter anderem im Salon im Parterre die aus der Bauzeit stammende Deckenmalerei wieder freigelegt und restauriert werden.

Bild: Freigelegter Abschnitt der ursprünglichen Deckenmalerei im Salon des Erdgeschosses; in der linken unteren Ecke erkennt man die noch nicht abgetragene darüberliegende Deckschicht. Quelle: Anja Furrer, Sonnenberg

Dass die Liegenschaft in den letzten Jahren nicht mehr richtig genutzt wurde, zeigte sich vor allem im Garten, dessen Pflanzen Wege, Mauern, Verandakonstruktionen und Fassaden in zunehmendem Masse überwucherten.

Bild: Die Pflanzen des Gartens beginnen alles zu überwuchern. Quelle: Anja Furrer, Sonnenberg

We Love lenzburg wünscht der in alter Pracht erstandenen Villa Sonnenberg als Kultur-Gästehaus viel Erfolg und freut sich auf kulturelle Highlights in den alten Mauern.

Grundlage der vorliegenden und der letzten Zeitreise vom Oktober bildet mein Manuskript zur Geschichte der Villa Sonnenberg im Fotoband Sonnenberg, herausgegeben 2023 von Anja Furrer und der Stiftung Villa Sonnenberg. Dieses Buch kann bei der Buchhandlung Otz, Kirchgasse 23, Lenzburg und beim Museum Burghalde gekauft werden. Preis CHF 40.
Titelbild: Der von Arnold Dürst 1897 angelegte Teil des Gartens, als er noch nicht verwuchert war. Aufnahme zu Lebzeiten Peter Miegs. Quelle: Kardos, Hellat, a.a.O., Seite 89