Zeitreise

Hochwasser in Lenzburg und was dagegen unternommen wurde

Auch in Lenzburg gab es Hochwasser. Die ergriffenen Massnahmen scheinen nun erfolgreich zu sein. Wir schauen zurück.

Von Christoph Moser

In den letzten Wochen war viel von Hochwasser in Deutschlands Norden, aber auch im Donauraum zu vernehmen. Auch in der Schweiz schrammten wir im Dezember knapp an grösseren Hochwasserschäden vorbei. So erreichte zumindest der Bielersee vorübergehend die Hochwasserwarnstufe 4 und die Aare unterhalb des Bielersees führte wochenlang Hochwasser im Bereich der Stufen 2 und teilweise 3. Dies gibt Anlass, auf Hochwasserereignisse in Lenzburg zurückzublicken, zumal die Hochwasserentlastung Aabach im Mai ihr 25-Jahr-Jubiläum feiern kann.

Der Stadtbach


Der Stadtbach ist ein kleines Gewässer, das in Zeiten mit wenig Niederschlag – wie im letzten Sommer – nur spärlich Wasser führt. Er wird von uns Lenzburgern liebevoll «Stadtbächli» genannt. Er entspringt oberhalb des Stöckhofs in der Gemeinde Egliswil, fliesst durch das Tälchen zwischen Egliswil und Ammerswil und wendet sich dann gegen Nordwesten durch die Kehlen Lenzburg zu. Rund hundert Meter vor der Kurve der Ammerswilerstrasse bei der Ortseinfahrt Lenzburg fliesst ein Teil des Bachwassers nach links in den sogenannten «Chraftgraben» ab, der an der Strafanstalt vorbei und dann im Chraftgrabenweg unterirdisch verläuft und schliesslich durchs «Himmelrych» offen dem Aabach beim Schwimmbad Walkematt zufliesst. Die andere Hälfte des Wasser fliesst von der Einmündung der Brunnmattstrasse an entlang der Ammerswilerstrasse in einem offenen Gerinne und verschwindet bei der Dampfwalze nach einem Sandfang und einem offenen Becken in der Röhre.
Bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts floss der Bach weiter durch das Stadtgässli, unter dem alten Gemeindesaal und dem alten Amtshaus hindurch in die Rathausgasse, versorgte die Stadt mit Brauch- und Löschwasser und spülte zugleich den Unrat weg. Seit Jahrzehnten endet sein Lauf bei der Einmündung des Friedweges in die Ammerswilerstrasse. Das Stadtbachwasser wird durch eine Rohrleitung im Friedweg über einen Wasserfall an der Wylgasse zum Alterszentrum Obere Mühle geleitet, wo es einen Teich bildet und danach in den Aabach fliesst. Die Geschichte des Stadtbachs und seine einst wichtige Funktion für die Stadt bieten viel Stoff und könnten zu gegebener Zeit das Thema einer separaten «Zeitreise» bilden.

Das Stadtbächli überflutet Burghaldenstrasse und Aavorstadt


Bild: Titelbild: Das Stadtbächli fliesst als reissender Bach die Burghaldenstrasse hinunter. In der Bildmitte erkennt man die 1976 abgerissene alte Schmitte (heute Parkplatz Burghalde). Quelle: Fotosammlung Nussbaum, Museum Burghalde Lenzburg, WFG_126.

Dass das Stadtbächli aber auch wild werden und über die Ufer treten kann, erlebten die Lenzburger am 21. September 1968. Die Chronistin in den Lenzburger Neujahrsblättern schildert es so: «Das grosse Wasser in Lenzburg. Vom Mittag bis in die späte Nacht ergiesst sich ein sintflutartiger Regen auf unsere Stadt. Das sonst harmlose Stadtbächlein führt ca. 3,5 m3 Wasser pro Sekunde und verwandelt Burghalde und Aavorstadt in einen reissenden Strom. Mit dem ebenfalls hochgehenden Aabach zusammen werden Strassen und Plätze sowie zahlreiche Keller und Untergeschosse unter Wasser gesetzt. Am meisten leidet das neue Altersheim, dessen Souterrain völlig unter Wasser steht. Die vier Autos in den Boxen werden vollständig überflutet und weisen Totalschaden auf. Die Feuerwehr steht im Grosseinsatz.»
Das Stadtbächli hat damals beim ehemaligen Bauamtsmagazin – dort, wo heute an der Ammerswilerstrasse die Dampfwalze steht – sein Bett verlassen, weil die dort beginnende unterirdische Röhre das enorme Hochwasser – über 3 Kubikmeter statt der normalerweise wenigen Liter pro Sekunde – bei weitem nicht mehr zu schlucken vermochte. Das Wasser ergoss sich auf die Ammerswilerstrasse in Richtung Burghaldenstrasse, kam auf deren Gefälle so richtig in Schuss und strömte durch die Aavorstadt zum Aabach. Wie gross der Wasserschwall in der Aavorstadt war, kann man auf dem Titelbild erkennen.

Die Hochwasserentlastung Stadtbach von 1977


Die Verantwortlichen der Stadt haben die Konsequenzen aus diesem Hochwasserereignis gezogen und dem Einwohnerrat im Februar 1975 einen Kredit von 2,8 Mio. Franken beantragt, um zusammen mit der kanalisationstechnischen Erschliessung des Gebietes Lenzburg Süd die Hochwasserentlastung Stadtbach zu verwirklichen. Dieses Bauwerk ist bis 1977 vollendet worden. Es besteht aus einem Hochwasserüberlauf oberhalb der Einmündung des Bölliweiherweges und einer Serie von Strassenablaufschächten im Bereich der S-Kurve für die Aufnahme des trotzdem auf die Ammerswilerstrasse überströmenden Wassers. Vom Entlastungsbauwerk wird das Hochwasser durch eine Rohrleitung via Ziegeleiweg zur Sportanlage Wilmatten und dort in den Aabach geleitet.
Diese Anlage hat sich bewährt und das Siedlungsgebiet von Lenzburg seither vor Überschwemmungen bewahrt. Lediglich die Strasse wird im Bereich des Entlastungsbauwerkes und oberhalb davon zuweilen noch überflutet.

Bild: Der Stadtbach überläuft im Juli 2021 oberhalb des Entlastungsbauwerks auf die Ammerswilerstrasse. Quelle: Vorlage Nr. 22/31 der Stadt Lenzburg, Hochwasserschutz Stadtbach

Da das Einlaufbauwerk zu knappe Öffnungen aufweist, die zudem leicht durch Geschwemmsel verstopft werden, ist vorgesehen, ein neues Einlaufbauwerk in Form eines sogenannten Streichwehrs zu erstellen. Dieses genügt zusammen mit dem Bachgerinne für die Aufnahme eines 30jährigen Hochwassers von 3.3 m3/sek. Bei einem 100jährigen, auf 4.2 m3/sek. veranschlagten Hochwasser würde die überschiessende Wassermenge auf die Strasse und von dort in eine neben der Kurve der Ammerswilerstrasse angelegte Versickerungsmulde fliessen. Soweit deren Versickerungsleistung nicht genügte, würde das Wasser über eine Einlauftulpe ebenfalls in die Hochwasserentlastungsleitung geführt. Zusammen mit weiteren Schutzmassnahmen am Stadtbach, u.a. beim Geschiebefang Schwöschterlochgraben hat der Einwohnerrat im September 2022 einen Kredit von 682’000 Franken bewilligt. Diese Arbeiten sollen zusammen mit dem vom Kanton geplanten Ausbau der Ammerswilerstrasse ausgeführt werden. Dieser hat sich aber in der Zwischenzeit verzögert.

Immer wieder Hochwasser am Aabach


Bereits oben haben wir von der Chronistin der Lenzburger Neujahrsblätter vernommen, dass 1968 das Altersheim Obere Mühle in schwerwiegender Weise vom Hochwasser des Aabachs betroffen war. Auf der folgenden Fotografie ist noch das ursprüngliche, 1965 in Betrieb genommene Gebäude des Altersheims abgebildet, das 2013-2016 durch den heutigen Neubau ersetzt wurde.

Bild: Das 1968 überschwemmte Altersheim. In der Bildmitte sind die Garagentore zu erkennen, die annähernd 2 m hoch im Wasser stehen. Quelle: Fotosammlung Nussbaum, Museum Burghalde Lenzburg, WFG_124

Der Chronik der Neujahrsblätter 1981 entnehmen wir: «5. Februar 1980: Starke Regenfälle bringen den Aabach zum Überlaufen und setzen unter anderem die Garagen des Altersheims und die Keller des neuen Migros Marktes unter Wasser.» Und am 3. Juni 1986 wird berichtet, dass ausgiebige Niederschläge an verschiedenen Orten zu überschwemmten Kellern, Wiesen und Strassen führten.
Zum Hochwasser vom 19. Mai 1994 lesen wir in der Chronik der Lenzburger Neujahrsblätter: «Ein Föhnzusammenbruch hatte dem Kanton ein Jahrhundert-Hochwasser beschert. Das Aabachtal wurde zum Flachsee, auf der Bachstrasse schwammen Enten. Die Berufsberatung am Bach [Anmerkung: sie befand sich im bachseitigen Gebäude der Mittleren Mühle] war ohne Schiff nicht mehr erreichbar. Die Küche im Altersheim Obere Mühle stand einen halben Meter unter Wasser. Derweil hatte der bereits bestehende Stollen in Niederlenz seine Wassertaufe glänzend bestanden.»

Die Hochwasserentlastung Aabach


Die Hochwasserereignisse von den 1960er bis in die 1980er-Jahre zogen Projektstudien nach sich, wie man die Hochwasserproblematik am Aabach lösen könnte. Dabei standen zwei Möglichkeiten zur Diskussion: Die eine Variante sah den Ausbau des Aabach-Gerinnes für die zu erwartende Hochwassermenge vor. Bei dieser Lösung hätten weitgehend die vorhandene natürliche Ufer-Bestockung und teilweise auch die am Bach stehenden historischen Bauten geopfert werden müssen. Insbesondere wäre das Idyll des «Klein-Venedig» am Aabach, wie es auf der Titelseite der Abstimmungsvorlage wiedergegeben ist, zerstört worden, indem eine der den Bach säumenden Häuserzeilen hätte abgerissen werden müssen. Wäre diese Lösung verwirklicht worden, wären die ehemaligen Bleiche-Gebäulichkeiten am Westufer des Aabachs nicht mehr vorhanden, die nun renoviert und für die Bedürfnisse der Lenzburger Schulen umgebaut werden und auch die Restaurierung des dort noch vorhandenen Wasserrades umfassen.

Bild: Idylle am Aabach im Bereich der ehemaligen Bleiche zwischen der Brücke Aavorstadt und der Brücke des Schulhausweges. Quelle: Titelseite der Abstimmungsvorlage zur Hochwasserentlastung Aabach

Die Alternative war ein 1,5 Kilometer langer unterirdischer Hochwasserentlastungsstollen mit 2,75 bis 3,00 m Durchmesser mit einem Einlaufbauwerk im Bereich der ehemaligen Ross-Schwemme oberhalb der Oberen Mühle und Einleitung in den schon vorher erstellten Hochwasserentlastungsstollen der Gemeinde Niederlenz. Das Einlaufbauwerk ist so gestaltet, dass maximal 11 m3/sek. Wasser im Aabach verbleiben, während der Rest bis rund 30 m3/sek. in den Entlastungsstollen fliesst. Unterwegs werden auch die bisher den Aabach belastenden 4 Regenwasserentlastungen des Kanalisationssystems an die unterirdische Leitung angeschlossen.
Dieses Vorhaben hiessen die Stimmberechtigten in der Volksabstimmung vom 4. Juni 1989 mit grosser Mehrheit gut. Die Kosten waren auf 11,4 Mio. Franken veranschlagt, der Anteil der Stadt Lenzburg auf 5.5 Mio. Franken. Die Bauarbeiten wurden von 1996 bis 1999 ausgeführt. Die grosskalibrige Rohrleitung wurde von 4 Pressschächten aus jeweils in zwei Richtungen zu den nächstgelegenen Entnahmeschächten bzw. dem Anschlusspunkt an die Leitung Niederlenz unterirdisch vorgetrieben.

Bild: Plan des Hochwasserentlastungsstollens Aabach (rot = Stollen; blau = Aabach). Quelle: Abstimmungsvorlage zur Hochwasserentlastung Aabach

Mit dem Bau der Hochwasserentlastung ist der Aabach im Gebiet Wilmatten renaturiert worden. Wo vorher der Schwimmbadparkplatz einen Teil des Areals belegte, ist das Areal der Natur zurückgegeben worden und eine baumbestandene Aue entstanden, in welcher der Aabach sich bei hohem Wasserstand in neu gebildete Seitenarme verzweigen kann. Damit kann auch die Hochwasserspitze gebrochen werden. Auch wird der Bach damit vom Areal des Schwimmbads Walkematt ferngehalten, in das er früher oft eindrang.
Eingeweiht wurde die Hochwasserentlastung Aabach im Mai 1999. Das war gerade rechtzeitig vor dem Jahrhunderthochwasser in der zweiten Hälfte des Monats Mai 1999, bei welchem der Aabach so viel Wasser führte wie nie zuvor. Nicht auszudenken, wie gross die Überschwemmungsschäden gewesen wären, wenn das neue Bauwerk nicht zur Verfügung gestanden hätte.
Aber schon vorher, am 4. November 1998, hatte das noch nicht ganz fertig gestellte Einlaufbauwerk notfallmässig provisorisch in Betrieb genommen werden müssen und bewährte sich hervorragend. Andernfalls wären das Alterszentrum Obere Mühle und weitere Objekte in gravierender Weise vom Hochwasser bedroht gewesen.

Bild: Mit einer provisorischen Öffnung im Damm des für die Bauarbeiten umgeleiteten Aabachs erweist das Einlaufbauwerk im November 1998 schon vor seiner Fertigstellung seinen Nutzen. Quelle: Fotodokumentation Archiv Stadtbauamt

In den nun 25 Jahren, seit die Hochwasserentlastung zur Verfügung steht, waren die Liegenschaften am Aabach in Lenzburg nie mehr durch Hochwasser bedroht.
Titelbild: Fahrzeuge kämpfen sich in der Aavorstadt durch das Wasser. Quelle: Private Fotosammlung Christoph Moser