Zeitreise

Lenzburg – ein Eldorado des Schnupftabaks

In Lenzburg wurde Schnupftabak hergestellt, der weltweit bekannt war.

Von Christoph Moser

Heute ist der Name Lenzburgs weltweit bekannt wegen der Marke «Hero», namentlich durch die buchstäblich in aller Welt zu findenden Konfitüren-Portionen in der Gastronomie. Im 19. und bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts stand der Name Lenzburg für ein anderes, weit herum bekanntes Produkt, den Schnupftabak. So konnte man beispielsweise in Wiener Tabakläden «Lenzburger Nr. 0» erwerben. Das Schnupfen von Tabak erfreute sich damals in allen Gesellschaftskreisen grosser Beliebtheit, und entsprechend gross war die Nachfrage. Die Exporte an Lenzburger Nr. 0, der teuersten Sorte, erreichten in den Spitzenjahren um 1880 40’000 bis 60’000 Kilogramm.

Schutzmarke der Firma Zweifel & Co. (aufgedruckt auf Geschäftspapieren sowie auf rotem und weissem Papier, in welches die Tabakpäckli gewickelt wurden). Quelle: Lenzburger Neujahrsblätter 1969, S. 77

Drei der bekanntesten Schnupftabakfabrikanten


Ab den 1820er-Jahren wurde in Lenzburg Schnupftabak hergestellt. In dieses Geschäft eingestiegen waren verschiedene Lenzburger Kolonialwaren-Händler. Die älteste dieser Firmen gründete 1774 Abraham Bertschinger, der Erbauer des Hauses «Im Hof» am Grabenweg. Ein weiterer Produzent war die Firma L. Widmer-Strauss mit ihrem Geschäftshaus am Kronenplatz. Dieses diente im 20. Jahrhundert der Buchdruckerei Kromer (damals Lenzburger Bezirksanzeiger). Die Firma Widmer-Strauss hatte unmittelbar nördlich des Bahndamms, neben dem Ausgang des ehemaligen Seetalbahntunnels ihre Tabakstampfe und knapp 100 Meter weiter in Richtung Niederlenz ihr Essenzhäuschen, wo die Stoffe für das Würzen des Schnupftabaks aufbewahrt bzw. gemischt wurden. Als dritte Firma ist die Firma Zweifel & Co. zu erwähnen, die ihre Geschäfte im Hause Aavorstadt 8, der heutigen Römer-Apotheke, betrieb. Vis-à-vis, im Hause Aavorstadt 9, wo man sich heute bei yamyam verköstigen kann, hatte die Firma Zweifel & Co. ihren Tabakkeller.

Das 1780/81 vom Kaufmann und Ratsherr Abraham Bertschinger erbaute Haus «Im Hof» am Grabenweg, Ansicht vom Ziegelacker her
Quelle: Kunstdenkmäler des Kantons Aargau, Band II, S. 97

Die Firma Bertschinger & Co. setzte in den 1880er-Jahren rund 19’000 kg «Lenzburger Nr. 0» um (daneben gab es 8 weitere Sorten, siehe nächste Abbildung). Um 1900 bis 1917 schwankte der Absatz um 10’000 bis 12’000 kg, von 1920 bis 1923 sank er von 4’400 kg auf 2’400 kg. Das Geschäft erlebte also im 20. Jahrhundert einen raschen Niedergang. Die Firmen zogen sich aus diesem Geschäft zurück. Als letzte Firma in Lenzburg produzierte Zweifel & Co. bis zu ihrer Liquidation 1944 Schnupftabak.

Die Preise von Lenzburger und anderen Schnupftabaksorten 1920. Quelle: Lenzburger Neujahrsblätter 1969, S. 62

Wie wurde Schnupftabak hergestellt?


Wir geben hier auszugsweise und im Text gekürzt die Schilderung von Samuel Hartmann über seine Tätigkeit als Lehrling bei der Firma Zweifel & Co. von 1939 bis 1942 wieder, zu finden in: «Damals in Lenzburg», Lenzburger Druck 1993, herausgegeben von der Lenzburger Ortsbürgerkommission.
«Als ich im Frühjahr 1939 die kaufmännische Lehre begann, war die Blütezeit für die Fabrikation von Schnupftabak längst vorbei. Meine Lehrfirma war in Lenzburg noch die einzige, die Schnupftabak herstellte. Das Tabaklager und der Tabakkeller befanden sich im Erdgeschoss des Hauses von Coiffeur Sämi Rohr, vis-à-vis unseres Geschäftshauses. Traf im Güterschuppen des Bahnhofs Lenzburg-Stadt ein Fass mit Tabakblättern ein, wurde es von der Firma Gebrüder Baumann ins Tabaklager transportiert. Im Tabakkeller befanden sich zwei grosse, mit Holzreifen versehene Holzstanden, die über dem Boden einen mit einem Holzzapfen verschlossenen Ablass hatten. Diese Behälter dienten für den Gärprozess. Vorerst wurde dem angelieferten Fass eine bestimmte Menge Büschel Blätter entnommen und sorgfältig aufgelöst. Alsdann wurde zirka die Hälfte in einer der Holzstanden aufgeschichtet. Danach galt es, die sogenannte «Sauce» (Beize) nach Geheimrezept herzustellen. Die Bereitstellung und Mischung der Zutaten wurde von Zweifel (dem Lehrmeister) im abgeschlossenen Labor vorgenommen (streng gehütetes Betriebsgeheimnis). War die «Medizin» fertig, wurde sie in den Tabakkeller gebracht und dort, verdünnt mit Wasser, an die Tabakblätter geschüttet. Die restlichen Tabakblätter wurden daraufgelegt. Ungefähr alle drei Tage musste die «Sauce» durch den Auslauf abgelassen werden. Dies war keine angenehme Arbeit, hatte doch die scharfe «Sauce» die Eigenschaft, bei Berührung rasch Löcher in Kleider und Schuhe zu fressen.

Im kleinen Gebäude gegen den linken Bildrand hin befindet sich im Erdgeschoss der Tabakkeller der Firma Zweifel & Co. Foto um 1945, heute wird hier das yamyam betrieben. Weiter nach rechts erkennen wir das ehemalige «Pilsnerstübli» (heute Büro) und das Café von Känel (durch Neubau ersetzt). Quelle: Fotoband liebes altes Lenzburg, S. 97

Der Gärvorgang dauerte einige Wochen. Von Zeit zu Zeit überprüfte Zweifel im Tabakkeller den Reifeprozess. Auf seine Weisung mussten die Tabakblätter mehrmals in den leeren zweiten Bottich (Holzstande) umgefüllt werden. So kamen die obersten Blätter im zweiten Bottich zuunterst zu liegen. Damit wurde eine gleichmässige Gärung und beste Qualität angestrebt. Nahte der Zeitpunkt der vollen Geschmacksentwicklung, wurde mit Herrn Walti, der in Dürrenäsch eine Tabakstampfe betrieb, die Abholung der Blätter vereinbart. Nun galt es, die entsprechenden Vorbereitungen zu treffen: Die «Sauce» wurde abgelassen und verschwand durch das im Keller befindliche «Senkloch» auf Nimmerwiedersehen im Erdreich (Umweltschutz war damals noch ein unbekanntes Wort). Die nassen Tabakblätter mussten in Jutesäcke abgefüllt werden. Dies war eine sehr schmutzige Arbeit, für welche sich der Lehrling in alte, mit vielen Flicken versehene Überhosen kleidete. Nach einigen Wochen lieferte Herr Walti den in der Stampfe zerkleinerten Schnupftabak in Jutesäcken ab. Nach Weisungen des Lehrmeisters galt es nun, die verschiedenen Sorten/Qualitäten zu präparieren. Der billigsten Qualität wurde Tabakstaub (Abfalltabak der Stumpenindustrie) beigemischt. Die Sorte «Blüemler» wurde mit ganz wenig Rosenöl parfümiert. Gewisse Sorten wurden mit Farbstoff noch schwärzer gemacht.
Der Versand an die Abnehmer erfolgte ausnahmslos in Kleinmengen ab einem Kilogramm. Am häufigsten wurden jedoch die Originalkistchen mit einem Inhalt von 4,5 Kilogramm netto bestellt. Vor dem Versand wurde der Schnupftabak nochmals sorgfältig aufbereitet, d.h., angefeuchtet und zwei bis drei Mal gesiebt. Nach der Begutachtung durch Zweifel konnte der Lehrling sein Geschick beim Zunageln der Kistchen beweisen.» So weit die Schilderung von Samuel Hartmann.

Der Eingang zur Firma Zweifel & Co. in der Aavorstadt; heute Römer-Apotheke. Quelle: Liebes altes Lenzburg, S. 97

Die Rechnung der Firma Widmer-Strauss von 1865


Sie war der Auslöser für meine Nachforschungen zum Schnupftabak. Von den Herausgebern des Mitteilungshefts Nr. 50 der Heimatkundlichen Vereinigung Furttal «Vom Colonialwarenladen zum Einkaufszentrum» wurde ich gebeten, verschiedene der in der Rechnung enthaltenen Zeichen, die sie nicht verstanden, zu erklären. Insbesondere war ihnen ein Rätsel, worum es sich bei «Lenzburger Nr. 5» handeln könnte. Für mich war der Fall schnell klar, da mir sofort in den Sinn kam, dass es in den Lenzburger Neujahrsblättern einen Artikel von Edward Attenhofer zum Thema «Lenzburger Nr. 0» gibt (LNB 1969, S. 60 ff.). Es gelang mir, die Rechnung samt Masseinheiten zu transkribieren. Und dabei ist ein interessantes Detail herausgekommen: Nebst unter anderem 25 Pfund Lenzburger Nr. 5 und 10 Pfund Lenzburger Nr. 2, welche 93 bzw. 120 Rappen das Pfund kosteten, wurden auch 110 Pfund Birnel Melis ff (= sehr fein) geliefert, und zwar für 49 Rappen pro Pfund. Dabei handelt es sich um eine Art Zucker. Industriell hergestellter Zucker war damals noch wenig verbreitet. Da der Franken von damals mit 50 multipliziert werden muss, ergibt sich für dieses zuckerartige Produkt ein heutiger Kilopreis von rund 50 Franken! Heute bezahlen wir im Detailhandel für ein Kilogramm Zucker rund 1 Franken. Zucker war damals ein Luxusgut.

Rechnung der Firma Widmer & Comp. von 1865. Quelle: Kurt Bannwart, vom Colonialwarenladen zum Einkaufszentrum, Heimatkundliche Vereinigung Furttal, Mitteilungsblatt Nr. 50

Wer sich näher für das Thema interessiert, dem sei folgende Lektüre empfohlen: Edward Attenhofer, Lenzburger Nr. 0, Lenzburger Neujahrsblätter 1969, S. 60 ff., Samuel Hartmann, Lenzburger Schul- und Lehrjahre, Damals in Lenzburg, Lenzburger Druck 1993
Das Gebäude des Schnupftabakfabrikanten L. Widmer-Strauss am Kronenplatz; später: Druckerei Kromer, Lenzburger Bezirks-Anzeiger. Quelle: Liebes altes Lenzburg, S. 145