Zeitreise

Poststrasse – von Musiknoten zu Banknoten, auch Kohle spielt mit

Ging es in der letzten Zeitreise um die Post an der Poststrasse, befassen wir uns dieses Mal mit dem nördlichen Teil der Poststrasse.

Von Christoph Moser

Bilder: Fotosammlung Stadtbauamt Lenzburg und Neujahrsblätter 2006

Der nördliche Teil der Poststrasse wird dominiert vom Hauptsitz der Hypothekarbank Lenzburg, der im Sommer 1975 in Betrieb genommen wurde. Bis 1971 standen an seiner Stelle zwei Villen mit grossen Gärten: Die vordere, in der Ecke Poststrasse/Bahnhofstrasse, bereits im 18. Jahrhundert errichtet, war einer der Wohnsitze der Familie Hünerwadel von der Walke. Die hintere stand im Eigentum eines Zweiges der Familie Schwarz (heute Schwarz Stahl AG).

Villen Hünerwadel (vorne) und Schwarz (hinten) von der Bahnhofstrasse her

Die Musikerin Fanny Hünerwadel


In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wirkte in der Hünerwadel-Villa der Arzt Dr. med. Friedrich Hünerwadel-Speerli. Er spielte Violine und zählte 1832 zu den Gründern des Orchesters des Musikvereins Lenzburg. Dessen älteste Tochter, Fanny Hünerwadel, geboren am 26. Januar 1826, war eine hoch begabte Sängerin, Klavierspielerin und Komponistin. Wie Wolfgang Amadeus Mozart (27. Januar), Franz Schubert (31. Januar) und Felix Mendelssohn (3. Februar) ist sie im Sternkreiszeichen des Wassermanns geboren, das u.a. für Musikalität steht. Mit den drei Genannten teilt die auch das Schicksal eines allzu frühen Todes. Auf einer ihrer Konzertreisen ist sie in Rom am 27. April 1854 an Nervenfieber gestorben. Einem Nachruf in der Neuen Zürcher Zeitung vom 8. Mai 1854 ist u.a. Folgendes zu entnehmen: «Infolge ihres achtjährigen Aufenthaltes in unserer Stadt [Zürich] ist die früh Vollendete uns wohlbekannt gewesen und hinterlässt auch in hiesigen Kreisen eine tiefgefühlte Lücke; denn sie hat uns manche schöne Stunde bereitet, wofür wir ihrem Andenken stets dankbare Erinnerungen zollen werden. Aus einer Familie stammend, in welcher die Tonkunst zu Hause ist, widmete sie sich von zartester Jugend an mit besonderer Vorliebe der Musik …. Wir mussten besonders bewundern, wie sie im Klavier- und Orgelspiel, Gesang und Komposition so vieles leistete, Vorzüge, die nicht oft zusammen vereinigt gefunden werden. Besondere Unterstützung gewährte ihr in dieser Beziehung ihr vortrefflicher Lehrer, Alexander Müller, welcher ihr auch Gelegenheit verschaffte, mit den ersten Meistern unserer Zeit in Berührung zu kommen. Liszt, Thalberg, Wagner, Vieuxtemps u.a.m. waren ihr persönlich bekannt. Sie schätzten ihre Schülerin und wussten sie mit neuem Streben nach Fortschritten im Gebiete der Kunst zu beleben.» (Wer Näheres über die begnadete Musikerin erfahren möchte, lese den Artikel von Emil Braun in den Lenzburger Neujahrsblättern 1932, S. 12 ff. «Berühmte Lenzburger Sängerinnen, II. Fanny Hünerwadel». Ferner enthalten die LNB 2006, S. 95 ff., einen Artikel von Werner Breig über das musikalische Album von Fanny Hünerwadel.)

Der Bruder von Fanny, Friedrich Hünerwadel-Bertschinger, war der Grossvater des bekannten Lenzburger Musikers, Malers und Literaten Dr. Peter Mieg, 1906-1990. Sein Bruder, Arnold Mieg, bewohnte das Haus an der Poststrasse als letzter Spross aus der Hünerwadel-Familie. Später war es der reformierten Kirchgemeinde Lenzburg-Hendschiken vermietet und wurde von Pfarrer Hans Riniker bewohnt.

Fanny Hünerwadel

Das hintere der beiden stattlichen Wohnhäuser, die Villa Schwarz-Fraissinet, wurde in der zweiten Hälfte des 19. und anfangs des 20. Jahrhunderts von Wilhelm Schwarz, Kaufmann, Teilhaber der Eisenwarenhandlung Schwarz, bewohnt. Sie wurde von dessen Sohn Georg Schwarz-Fraissinet 1926 mit einem grosszügigen Anbau mit Mansarddach erweitert. Auch Georg Schwarz und sein Sohn Boris Schwarz-Fischer waren im Orchester des Musikvereins Lenzburg aktiv: Georg Schwarz spielte Cello, Boris Schwarz Violine. Auch die Mutter des Verfassers dieser Zeilen wirkte im Orchester als Geigerin mit. Und dieser Beziehung ist es zu verdanken, dass seine Eltern hier als Mieter einziehen durften und er von seinem 11. bis zum 22. Lebensjahr «hinter der Kirche», wie man damals sagte, in der Villa Schwarz-Fraissinet aufwuchs. Das grosszügige Wohnzimmer mit einer Raumhöhe von 3 Metern war für Musik wie geschaffen. Selbstverständlich hat sich auch der Autor eifrig dem Violinspiel gewidmet. Daneben erinnert er sich an die Verkehrssituation in den 1960er-Jahren an der Poststrasse: Am 6. Oktober 1964 ist die Verbindungsstrasse Hendschikerstrasse-Niederlenzerstrasse (zum Freiämterplatz) in Betrieb genommen worden. Seither – und bis zur Inbetriebnahme der Kernumfahrung im November 2005 – rollte der West-Ost-Verkehr durch die Kirchgasse zum Freiämterplatz (vorher via Rathausgasse-Schützenmattstrasse) und der Ost-Westverkehr vom Freiämterplatz via Poststrasse in die Aavorstadt (vorher via Schützenmattstrasse-Sandweg). Bevor das erste Autobahnteilstück im Kanton Aargau – Lenzburg-Hunzenschwil – am 20. Juni 1966 eröffnet wurde, wälzte sich der gesamte Verkehr durch unser Städtchen. Beim Fussball-Cupfinal am Pfingstmontag in Bern schlich jeweils im Schritttempo eine geschlossene Autokolonne nach Westen und abends zurück nach Osten.

Nicht nur Musik- und Banknoten, sondern auch Kohle


An der Stelle des heutigen Parkplatzes «Erlengut» standen früher die Gebäude des Transportunternehmens mit Brennstoffhandel der Gebrüder Baumann, im Volksmund «de Chole-Buume». In den 1950er- und 60er-Jahren, als Kohlenheizungen noch verbreitet waren, lieferte dieses Unternehmen in manche Haushalte und Betriebe den wichtigen Energieträger. Am Bahnhof, wo heute die gelben Hauben der Bushaltestelle stehen, befand sich vor dem Bahnhofneubau ab 1971 das Freiverladegleis. Dort schaufelten Männer mit Muskelkraft die Kohle aus Bahnwagen auf Anhänger. Mit diesen gings entweder direkt zu den Kunden oder in die Gebäude an der Poststrasse, wo die Kohle in Säcke abgefüllt wurde. Mit Kreissäge und Spaltmaschine wurde auch Brennholz zubereitet. Nachdem die Firma an der Hardstrasse einen neuen Werkhof bezogen hatte, wurden die Gebäude der Gebrüder Baumann an der Poststrasse 1989 abgerissen.
Seit Jahrzehnten sind wir Lenzburger gespannt, wann und wie dieses Areal, auf dem früher auch die Alte Post sowie das Restaurant zur Alten Post und Annexbauten standen, neu überbaut wird.

Gebäude der Gebr. Baumann
Titelbild: Luftaufnahme der Villen Schwarz (links) und Hünerwadel (rechts) an der Poststrasse 9 und 11, dahinter die Stadtkirche.