Kuriositätenkabinett

Römisches Lenzburg reloaded

Lange war es ruhig um die römische Stadt im Lindfeld, bis zu den sensationellen Neuigkeiten vergangenen Juni. Was bekannt ist und was vermutet wird – eine Übersicht.

Von Jonas Nyffeler

Bilder: Kantonsarchäologie Aargau

 

Bekannt ist sie schon lange, die römische Kleinstadt im Lindfeld bei Lenzburg, oder wie die Fachleute sagen, der vicus. Alte Geschichten ranken sich um diesen Ort. «Eine Stadt von sehr beträchtlichem Umfange» soll dort gestanden haben. Eine Sage erzählt gar, dass unter dem Römerstein – der grosse Findling im benachbarten Lindwald – ein römischer Goldschatz verborgen sei.
Vom Schatz fehlt bislang jede Spur. Ein Teil der Stadt wurde jedoch bereits um 1800 zum ersten Mal wieder ausgegraben. Damals war es weniger wissenschaftliche Neugier denn Pragmatismus: Die riesigen Steinquader bis 6 m Länge waren willkommenes Baumaterial. Im modernen Städtchen wurden sie erneut genutzt, zum Beispiel in der Terrassenmauer des Müllerhauses. Was es mit diesen grossen Steinen genau auf sich hatte, war damals noch nicht klar. Doch dazu später mehr.
Erste planmässige Grabungen folgten 1830. Im Lenzburger Wochenblatt, der ältesten Zeitung von Lenzburg, steht 20 Jahre später, dass nebst zahlreichen Funden «unterirdisches Gemäuer und sogar ganze Gewölbe zu Tage [gefördert wurden], in die man förmlich hinabsteigen könnte.»
Der Bau des Bahneinschnitts 1872 schlug dann eine Schneise durch die römische Siedlung. Aus dieser Zeit stammen die ersten Zeichnungen von römischen Mauern. Eine Sensation war die Entdeckung eines szenischen Theaters beim Bau des Autobahnzubringers. Es ist erst das vierte bekannte der Schweiz und bot bis zu 4000 Personen Platz. Der Grossbau bewies, dass das römische Lenzburg nicht nur ein einfacher vicus, sondern ein bedeutender Ort war.
Der vicus auf einen Blick. Die dunklen Linien sind römische Mauern und Strassen.

Seit letztem Jahr wird die Siedlung mit modernster Technik erneut untersucht. Eine Ausgrabung gibt es nicht. Dafür kommen Geräte zum Einsatz, die den magnetischen Widerstand oder die elektrische Leitfähigkeit des Bodens messen. Mauern haben unterschiedliche physikalische Eigenschaften als der umgebende Boden und erzeugen andere Messwerte. Werden diese in ein Graustufenbild umgerechnet, heben sich am Bildschirm römische Mauerreste und Strassen als dunkle Linien von der Umgebung ab. So ist es gelungen, auf einen Schlag den gesamten noch vorhandenen Teil des vicus zu erforschen. Und das, ohne auch nur einmal den Spaten anzusetzen.
Eine rechteckige Struktur von 60 x 70 m auf der linken Bildseite sticht besonders ins Auge. Es handelt sich um einen grossen Tempel. Das Heiligtum war von einer Umfassungsmauer umgeben. Zusammen mit weiteren, kleineren Sakralbauten und dem Theater gehörte dieser Tempel zu einem heiligen Bezirk. Vermutlich pilgerten Menschen aus der weiteren Umgebung für religiöse Feste nach Lenzburg.
Somit ist auch das Rätsel um die riesigen Bausteine gelöst, die damals im Müllerhaus verbaut wurden. Sie waren Teil eines grossen öffentlichen Gebäudes wie dem Theater oder dem grossen Tempel.
So könnte der Tempel ausgesehen haben. Der Grundriss ist bekannt, der Aufbau orientiert sich an anderen bekannten Tempelanlagen.

Alles klar also? Noch nicht ganz. Die Grösse des römischen Lenzburgs ist mittlerweile bekannt. Entlang einer etwa 500 m langen Strasse erstreckten sich Wohngebäude und Werkstätten, die erwähnten Tempel und etwas abseits das Theater. Ausserhalb der Siedlung im Lindwald lagen römische Gräber. Auf der Ackeroberfläche entdeckte Münzen verraten, dass der vicus vom 1. bis ins 4. Jahrhundert existierte.
Das Mauergewirr auf dem Bild ist jedoch längst noch nicht vollständig entschlüsselt. Ebenfalls seltsam ist die untypische Lage des vicus. Die Römer legten ihre Siedlungen meist in der Nähe eines Gewässers an. Weshalb also liegt der vicus nicht am Aabach?
Es gibt noch einiges zu knobeln rund ums römische Lenzburg. Die Kantonsarchäologie und ihre Kooperationspartner, das Museum Burghalde und die Vindonissa-Professur der Uni Basel, bleiben dran. Bereits im nächsten Jahr soll es wieder Neuigkeiten geben.
Die neusten Ergebnisse und aktuelle Funde präsentiert das Museum Burghalde in seiner Vitrine «Archäologie aktuell».
Titelbild: Das römische Theater von Lenzburg.