Zeitreise

Stalinblöcke, Cervelatblock und Flötenblöcke

Diese neuartigen Bauten linderten die akute Wohnungsnot nach dem zweiten Weltkrieg.

Von Christoph Moser

Weil zurzeit deutlich mehr Wohnungen benötigt als gebaut werden, zeichnet sich für die nächsten Jahre ein steigender Wohnungsmangel ab. Massnahmen zur Linderung dieses Mangels werden erörtert. Vor 80 Jahren, während und nach dem 2. Weltkrieg, herrschte in Lenzburg wie in vielen anderen Gemeinden ebenfalls ein drastischer Wohnungsmangel. Während in Städten wie Zürich schon längst grosse Überbauungen mit zahlreichen Mietwohnungen vorhanden waren, gab es in Lenzburg bis zum Ende des 2. Weltkrieges keine Wohnblöcke. Mietwohnungen gab es zwar, aber nur in Zwei- oder Dreifamilienhäusern (z.B. in der Aavorstadt) sowie teilweise in den mehrere Stockwerke hohen Häusern der Altstadt.

Bild: Aufnahme der Aavorstadt aus dem Jahre 1939. Die Strasse wird gesäumt von den im 19. Jahrhundert errichteten Zwei- und Dreifamilienhäusern. Quelle: Postkarte

Der grosse Wandel von freien Feldern zu überbautem Gebiet


Heute ist Lenzburg nach Westen bis an den Rand des Lenzhardwaldes praktisch lückenlos überbaut. Es gibt nur noch ganz vereinzelt unüberbaute Parzellen. Wie wir auf der folgenden Abbildung feststellen können, war das 1951 ganz anders. Links der Bildmitte erkennt man den Bahnhof (mit den alten Gebäuden und noch ohne Perrons) und die Fabrikgebäude der Hero (heute Quartier «Im Lenz»). Am unteren Bildrand ist das Gebäude der damaligen Zeiler Packungen AG (heute Artoz Papier) an der Ringstrasse West zu erkennen. In der Ecke rechts unten ist ein Teil des Zeughausareals zu sehen. Das geschlossen überbaute Gebiet endete damals an der Hallwilstrasse. Diese verläuft von der Zeughausstrasse zum rechten Bildrand. Die Zeughausstrasse führt vom Zeughaus am unteren Bildrand in Richtung der katholischen Kirche, macht aber bei der ehemaligen Langenbach AG (heute Coop-Center 2000 plus) einen Bogen nach rechts. Stehen heute im ganzen Gemeindegebiet unzählige Wohnblöcke, darunter 13 Hochhäuser, sind auf der Aufnahme von 1951 nur vereinzelt Mehrfamilienhäuser zu erkennen, z.B. jene am Blumenrain und der Cervelatblock an der Aavorstadt (hinter dem grossen Gebäude des Bezirksschulhauses [heute Schulhaus Bleicherain; die zahlreichen Bemerkungen in Klammern zeigen, wie viel sich verändert hat]). Im Bildvordergrund sehen wir grosse unüberbaute Flächen. Auf der damals noch freien Fläche zwischen dem Zeughaus und der Hallwilstrasse stehen heute die Oberstufen-Schulanlage Lenzhard und die HPS. Die vom Fabrikbau der Zeiler AG zur Bildmitte hin verlaufende Murackerstrasse führte damals noch nicht bis zum Bahnhof.

Bild: Lenzburg 1951, Luftaufnahme von Westen gegen das in dichtem Wald versteckte Schloss. Quelle: Foto von Werner Friedli, Fotobibliothek ETH

Der grosse Wohnungsmangel und die Aufhebung der Niederlassungsfreiheit von 1942 bis 1950


Vergleicht man die Einwohnerzahl Lenzburgs mit der Zahl der versicherten Gebäude, so ergibt sich für die Zeit von 1910 bis 1960 folgendes Bild:



Die Zahl der Gebäude wurde auf Grund der Versicherungsnummern im Lagerbuch (= Verzeichnis der bei der Aarg. Gebäudeversicherung registrierten Gebäude) per Jahresende grob ermittelt. (Eine detaillierte Analyse mit Erfassung des Gebäudetyps und des genauen Schätzungsdatums hätte einen nicht vertretbaren zeitlichen Aufwand verursacht.) Da das Verzeichnis sämtliche Gebäude, also z.B. auch öffentliche Bauten, Fabrikbauten, Schuppen, Garagen usw. enthält, ist die Zahl der Wohnbauten um einiges geringer als die Gesamtzahl der Gebäude. Von 1910 bis 1950 wuchs die Einwohnerzahl um 1’774, jene der Gebäude um 668. Wenn wir annehmen, dass schätzungsweise 1/5 der Gebäude nicht Wohngebäude waren, so kann von rund 540 Wohngebäuden ausgegangen werden, die zwischen 1910 und 1950 erstellt wurden. In der betrachteten Zeit wurden im Wesentlichen Einfamilienhäuser und wenige Zwei- oder Dreifamilienhäuser errichtet. Die ersten drei Wohnblöcke wurden 1949 verzeichnet. Besonders von 1945 bis 1950 fällt die geringe Anzahl von geschätzt 85 Wohnbauten bei 411 zusätzlichen Einwohnern auf und belegt die damalige Wohnungsknappheit. Von 1950 bis 1960 wächst die Anzahl der Gebäude dann viel weniger als die Einwohnerzahl, weil in diesen Jahren viele Mehrfamilienhäuser mit einer grossen Zahl an Wohnungen errichtet wurden.

Bild: Die «Stalinblöcke» von 1948/49 am Blumenrain. Der Gebäudeteil im Vordergrund wurde erst 1954/55 erstellt. Quelle: Aufnahme CM

Schon die Zahlen der Tabelle lassen erkennen, dass nach Beginn des zweiten Weltkrieges auch in Lenzburg ein grosser Wohnungsmangel herrschte. Diese Wohnungsnot betraf weite Teile der Schweiz. Deshalb erliess der Bundesrat auf Grund der ihm während des zweiten Weltkrieges zustehenden Notrechtskompetenzen am 15. Oktober 1941 den Beschluss betreffend Massnahmen gegen die Wohnungsnot. Damit wurden die Kantone ermächtigt, die von der Bundesverfassung garantierte Freizügigkeit (Niederlassungsfreiheit) für Schweizer Bürger einzuschränken. Der Aargauer Regierungsrat erliess am 7. November 1941 eine entsprechende Vollziehungsverordnung. Am 4. November 1942 beantrage der Stadtrat dem Regierungsrat, auch die Stadt Lenzburg diesen Beschränkungen der Freizügigkeit zu unterstellen. Der Regierungsrat hat diesem Gesuch am 14. November 1942 entsprochen. Fortan musste eine Bewilligung vom Stadtrat einholen, wer in Lenzburg zuziehen wollte. Die Bewilligungen erteilte der Stadtrat; Abweisungen verfügte auf Antrag des Stadtrates das Bezirksamt. Und so finden wir in den Stadtratsprotokollen der folgenden Jahre zahlreiche Bewilligungen für eine bzw. Anträge auf Abweisung einer Wohnsitznahme in Lenzburg. Vermietern war es verboten, vor dem Vorliegen einer stadträtlichen Bewilligung einen Mietvertrag abzuschliessen. 1943 hat der Stadtrat 30 Niederlassungsgesuche bewilligt und in 13 Fällen dem Bezirksamt Abweisung beantragt. 1944 standen 30 bewilligten Gesuchen 12 Abweisungen gegenüber. Nach Ende des zweiten Weltkrieges im Mai 1945 gab es wesentliche weniger Abweisungen: 1946 standen 26 Bewilligungen 3 Abweisungen gegenüber. 1947 wurden 26 Gesuche bewilligt und 2 abgewiesen, 1948 wurden 11 Gesuche bewilligt und 2 abgewiesen, 1949 stand 11 Bewilligungen 1 Abweisung gegenüber. Im Jahr 1950 gab es 8 Bewilligungen und 2 Abweisungen. 1951 fand diese empfindliche Einschränkung der von der Bundesverfassung garantierten Niederlassungsfreiheit endlich ein Ende. Man darf wohl annehmen, dass die gegenüber den Kriegsjahren geringere Anzahl der Bewilligungen und Abweisungen in den Jahren 1948 bis 1950 auf eine gewisse Dunkelziffer schliessen lässt, indem diese verfassungswidrigen Vorschriften wohl nicht mehr so ohne weiteres akzeptiert wurden.
Einige Zitate aus Anträgen des Stadtrates auf Verweigerung der Niederlassungsbewilligung mögen zeigen, wie beschwerlich die Wohnungssuche damals war und wie der Stadtrat immer wieder auf die grosse Wohnungsnot hinwies:

Art. 77 vom 27. Januar 1943:
F.B., in Arbeit bei Firma X in Hunzenschwil, stellt das Gesuch um Erteilung der Niederlassungsbewilligung in Lenzburg. Da in Lenzburg keine einzige verfügbare Wohnung besteht und da der Gesuchsteller auch nicht in Lenzburg arbeitet und auch keine anderen Beziehungen zur Gemeinde hat, wird das Bezirksamt ersucht, die Bewilligung zu verweigern.
Das Bezirksamt hat diesem Antrag entsprochen, der Regierungsrat eine dagegen erhoben Beschwerde abgewiesen.

Art. 631 vom 18. August 1943:
Y.X., Pensionierter, ersucht um Erteilung der Niederlassungsbewilligung. Er hat bereits ohne Bewilligung in Lenzburg eine Wohnung bezogen.
Da in Lenzburg immer noch eine empfindliche Wohnungsknappheit herrscht und der Gesuchsteller keine Gründe geltend macht, die für eine dringende Notwendigkeit seiner Wohnsitznahme in Lenzburg sprechen, muss das Gesuch abgewiesen werden. In den Publikationsorganen der Gemeinde ist mehrmals Folgendes publiziert worden: «Alle Wohnungsvermieter werden darauf aufmerksam gemacht, dass neue Mietverträge nur nach Vorliegen einer bewilligten Niederlassung abgeschlossen werden können. Nichtbeachtung dieser Vorschrift hat die volle Haftbarkeit des Vermieters zur Folge.» Aus diesen Gründen kann ein verfrühter Wohnungsbezug in Lenzburg an der Entschliessung des Gemeinderates nichts ändern. Dem Gesuchsteller wird eine Frist bis Ende September 1943 zum Wegzug aus Lenzburg eingeräumt.

Art. 383 vom 16. April 1947:
Die Familie XY, Bellach bei Solothurn, stellt das Gesuch um Niederlassung in Lenzburg. Obschon sich die Familie verpflichtet, eine Wohnbaracke als Notwohnung aufzustellen, kann dem Gesuch aus Konsequenzgründen nicht entsprochen werden.

Art. 772 vom 19. Juli 1950:
Auch das neuerliche Gesuch von X muss abschlägig beschieden werden.
Die starke Wohnungsnot in Lenzburg zwingt die Behörde, alle Niederlassungsgesuche von auswärts Wohnenden, die nicht unbedingt auf den Wohnsitz in Lenzburg angewiesen sind, abzuweisen.

Bild: Die 1954 fertiggestellten «Flötenblöcke» an der Murackerstrasse. Quelle: Aufnahme Christoph Moser.

Die Stalinblöcke, der Cervelatblock und die Flötenblöcke lindern die Wohnungsnot
Die ersten Wohnblöcke in Lenzburg mit insgesamt 18 Wohnungen entstanden 1948/49 am Blumenrain. Der letzte Block am Blumenrain mit 9 Wohnungen wurde erst 1954/55 nach dem Abbruch eines danebenstehenden Bauernhauses erbaut. Wie kam nun der Volksmund auf den Namen «Stalinblöcke»? Da Mehrfamilienhäuser, wie wir in der Einleitung gesehen haben, bisher in Lenzburg etwas Unbekanntes waren und von einem konservativen Teil der Bürgerschaft wohl als Ausdruck von Sozialismus oder gar Kommunismus empfunden wurden, war rasch ein Name gefunden: Der allmächtige Diktator des kommunistischen Russland, Josef Stalin, war damals die Personifizierung real-sozialistischer Macht. Und so nannte man die drei 1949 von der Gebäudeversicherung geschätzten ersten Lenzburger Wohnblöcke «Stalinblöcke».
1950/51 wurde in der Aavorstadt der «Cervelatblock» errichtet. 1954 folgten die Mehrfamilienhäuser an der Murackerstrasse 7 bis 13 mit insgesamt 55 Wohnungen. Sie erhielten im Volksmund den wenig feinen Namen «Flötenblöcke». Wie kam es zu diesen Namen? Noch heute sind die jeweils neusten Mietwohnungen sehr teuer. Das war auch damals nicht anders, und so fragten sich die Leute, wie die Mieter sich wohl diese teuren Wohnungen leisten könnten. Beim Block in der Aavorstadt kamen sie zum Schluss, die Mieter müssten so viel Geld für ihre Wohnung aufwenden, dass nichts mehr für einen Sonntagsbraten übrigbleibe und sie sich nur noch einen Cervelat leisten könnten.
Bei den «Flötenblöcken» setzten Schlaumeier die Vermutung in die Runde, diese Wohnungen seien so teuer, dass nur «Flöten» über das notwendige Einkommen verfügten, um sie zu mieten. Unter diesem Begriff verstand man Damen, welche käufliche Liebe anboten.
Diese ersten Wohnblöcke waren im konservativen Städtchen etwas so Besonderes, dass man ihnen spezielle Namen verlieh. Ihnen kommt das Verdienst zu, die akute Wohnungsnot gelindert zu haben. Ab Mitte der 1950er-Jahre wurden in Lenzburg Mehrfamilienhaus-Überbauungen in grosser Zahl aus dem Boden gestampft. Diese Wohnform wurde zu einer Selbstverständlichkeit, die nicht mehr nach speziellen Namen rief. In der Folge stieg die Einwohnerzahl in rascher Folge und erreichte 1974 mit 7784 ihren Höchststand. Danach pendelte sie während eines Vierteljahrhunderts bis ins Jahr 2000 um 7500. Erst von da an ist sie zuerst gemächlich und dann vor allem mit der Überbauung der «Widmi» und dem Neubau des Quartiers «Im Lenz» an Stelle der Hero-Fabrikanlagen nach 2010 sehr schnell auf die heutigen rund 11’000 Einwohner:innen gewachsen.
Titelbild: Die Aavorstadt nach 1950, rechts die Dreifamilienhäuser aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; der Neubau am linken Bildrand ist der Cervelatblock. Bildquelle: Postkarte